Willkürverbot und Vertretbarkeitskontrolle in der EMRK im Lichte der Rechtsprechung des EGMR
Die Aufgaben des EGMR unterscheiden sich von jenen der nationalen Höchst-, insbesondere der Verfassungsgerichte. Ungeachtet der Verpflichtungen der nationalen Justiz nach Art 1 EMRK (Zusicherung der Konventionsrechte an alle der nationalen Jurisdiktion unterliegenden Menschen) fungiert das Strassburger Gericht für fast 50 Staaten als Monitor, Hüter und Wächter der Menschenrechte in Europa. Folgt man den Zahlen der HUDOC-Homepage, so sind nach dem geltenden Rechtsschutzsystem bisher über 63.000 Beschwerden behandelt worden (Grosse Kammer (GK) = 4.877, in den einzelnen Kammern = 58.208; Stand 15.10.2020).
Das supranationale Grenzorgan hat die EMRK in dynamischer Interpretation weiter entwickelt und hat einen hohen Standard des Schutzes für fundamentale Verfahrensgarantien und Menschenrechtsverbürgungen entwickelt. Über die Kontrolldichte lässt sich vereinfacht sagen: Je schwerer der Eingriff desto genauer die Nachprüfung, Abwägungen sind hingegen im Rahmen der materiellen Vorbehalte vorzunehmen, hier aber oft mit bemerkenswerter Zurückhaltung vor regionalen Besonderheiten (Sitte, Religion); bei vorbehaltlosen Grundrechten duldet der EGMR hingegen keine Unterschreitungen des europäischen Standards. Von Bedeutung für eine faire Zuteilung von Transferleistungen sind jene zahlreichen Urteile, die eine Diskriminierung im Genuss der Konventionsrechte (jeweils in Verbindung mit Art 14 EMRK) rügen. Der Beitrag zeigt, dass in der EMRK ein Willkürverbot nicht explizit verankert ist, sondern dem Interpreten in Form ausfüllungsbedürftiger Klauseln in den materiellen Vorbehalten und in einer mannigfaltig variierten Judikatur begegnet. Das Strassburger Gericht legt somit je nach betroffenem Grundrecht der nachprüfenden Kontrolle einen materienspezifisch beweglichen Rahmen zugrunde, wie an Hand von zahlreichen Beispielen gezeigt wird.
Normen: Art 2, 3, 8, 9, 10, 12, 14, 34 EMRK; Art 1, 2 und 3 des 1. ZP EMRK; Art 5 des 7. ZP EMRK; 11. ZP und 14. ZP EMRK; Art 2, 5, 6, 18 StGG 1867; Art 7, 83 Abs 2, 139, 140 B-VG
Schlagworte: Abwägung, Beschwerdeverfahren, Effizienz, Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Evidenzkontrolle, Gleichheitssätze, internationaler Grundrechtsschutz, Individualbeschwerde, Kontrolldichte, Vertretbarkeitskontrolle, Willkürverbot
Einleitung – Rang und Bedeutung der EMRK
Das Jubiläum und die Grundsatzfragen der EGMR-Rechtsprechung
70 Jahre EMRK und die Anfänge der Strassburger Spruchpraxis
70 Jahre EMRK bedeuten ein Jubiläum,[1] das gegenüber den noch runderen 100-Jahrjubiläen der Verfassung des Fürstentums Liechtenstein vom 5. Oktober 1921 und des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes vom 1. Oktober 1920 (in Kraft seit dem 10. November 1920) womöglich in den Hintergrund geraten könnte. Gleichwohl entfaltet die EMRK mittels der Urteilspraxis des EGMR für deutlich mehr Staaten als jene des EuGH Wirksamkeit, darunter auch Georgien, die russische Föderation und die Türkei. Insgesamt sind 47 Staaten Vertragsstaaten der EMRK. Dem EGMR gehören auch Richterinnen und Richter aus Andorra, San Marino und dem Fürstentum Liechtenstein an, das sich zeitweise durch einen gebürtigen Kanadier oder (mehrfach) durch Schweizer Juristen auf der Richterbank vertreten liess.
Die zeitliche Spanne, in der sich die Judikatur entfalten konnte, ist auch in den westlichen Staaten deutlich kürzer als die Geschichte der EMRK selbst. So hat zB die Französische Republik, die der EMRK 1973 beitrat,[2] die Individualbeschwerde erst 1981 anerkannt,[3] sodass es erst seit rund dreissig Jahren Judikatur des EGMR zu französischen Fällen gibt. Auch Finnland konnte sich erst nach dem Zerfall der UdSSR Ende der 1980er-Jahre zu einem Beitritt zum Rechtsschutzsystem der europäischen Menschenrechtskonvention entschliessen. Schweden akzeptierte die Jurisdiktion spät, räumte der EMRK aber von Verfassungs wegen Vorrang und Beachtlichkeit durch sämtliche Gerichte ein.[4] Alle Vertragsstaaten haben Vorkehrungen getroffen, dass sich auch die nationalen Organe an die EMRK halten, die somit eine europäische Magna Charta geworden ist.
Die Rsp des EGMR bewirkt transjudizielle Effekte und beeinflusst die nationale Grundrechtsdogmatik und Rsp der Verfassungsgerichte sowie anderer Tribunale nachweislich. Das gilt sowohl für die Rsp des deutschen Bundesverfassungsgerichts (BVerfG),[5] des Staatsgerichtshof des Fürstentum Liechtenstein StGH), des schweizerischen Bundesgerichts (BG), wie auch für den österreichischen Verfassungsgerichtshof (VfGH)[6] und den österreichischen Verwaltungsgerichtshof (VwGH), wofür als Beispiel die Anpassung an die familienrechtliche Judikatur des EGMR und deren Fortschreibung genannt werden soll. Zwischen Strassburg und den nationalen Gerichten entwickelt sich vielfach eine durch den Nachvollzug neuer Rsp erkennbare Dynamisierung, die nicht stets unkritisch gesehen wird.[7] Die Standards, die der EGMR für ein faires Verfahren in Strafsachen vorgab, führten regelmässig zu Nachschärfungen, auch die Strafprozessordnung wurde durch die Strassburg folgende Judikatur des österreichischen VfGH etwa hinsichtlich des Rechts auf Akteneinsicht und den Zugang zu Ton- und Videoaufzeichnungen (Waffengleichheit) durch Aufhebung einer entgegenstehenden Regelung und nachfolgende Novellierung korrigiert.[8] Was die Vorgaben der EMRK betrifft, unter denen eine Freiheitsentziehung zulässig ist, prüft der EGMR die taxativen Gründe genau nach.[9] Nicht stets handelt es sich um einen unkritischen Nachvollzug, nicht zuletzt wegen aufgeteilter Zuständigkeiten und einer Trennung der Beurteilung der Verfassungskonformität kann es in manchen Vertragsstaaten zu Konflikten zwischen der EGMR-Rsp und der nationalen Spruchpraxis kommen, wie anhand von französischen[10] und österreichischen[11] Beispielen zu zeigen ist. Aber auch dort wo ein Staat mit der Umsetzung angloamerikanisch beeinflusster Verfahrensgarantien Probleme hat oder seine Rechtstradition anpassen muss, kommt es fast zwangsweise zu Konflikten.[12]
European Supervision, Grundsatzfragen und Ausweitung des Grundrechtsschutzes
Es ist unbestritten, dass die EMRK und – mit ihr – die von den meisten Vertragsstaaten der Konvention und den Mitgliedstaaten des Europarats akzeptierte Jurisdiktion des EGMR die wirkungsvollste internationale Kontrolle der Wahrung von Grundrechten im europäisch-regionalen Bereich im Sinne einer “European supervision“ ermöglicht hat.[13] Und dazu tritt eine zunehmend differenzierte und den Grundrechtsschutz auf EU-Ebene ausweitende Judikatur des (luxemburger) EuGH, der sich auf die GRC und die EMRK stützt, für letztere aber dem EGMR den Vorrang des auslegenden Grenzorgans einräumt. Hier stellen sich zahlreiche neue Fragen, da die GRC zunächst nur im Rahmen des Unionsrechts anwendbar war, aber von nationalen Gerichten wie die Grundrechte der EMRK nach dem Günstigkeitsprinzip zwischenzeitig ungeachtet ihres Ursprungs und Kontexts angewendet wird.[14] Dass der EuGH aber nach geltender Rechtslage nicht das zuständige Grenzorgan zur Auslegung der EMRK ist, versteht sich von selbst. Doch es erscheint als bemerkenswert, dass der EuGH in konsistenter Weise auf die Judikatur des EGMR Bezug nimmt; vice versa wird auch die Judikatur des EuGH vom EGMR als eine wohlerwogene Urteilspraxis berücksichtigt und zitiert. Weiter unten wird noch genauer auf Fälle eingegangen, in denen EuGH und EGMR zu sehr ähnlichen Ergebnissen in der Prüfung der Verhältnismässigkeit von Massnahmen (zB im Antidoping-Recht) kamen. Das scheint auch für das hier auszuarbeitende Thema von Bedeutung, weil in Bereichen, in denen es EuGH-Rsp gibt, aus Sicht des EGMR eine willkürliche (arbitrary) oder unvernünftige (unreasonable) Auslegung der entsprechenden Rechtsgrundlagen nicht mehr unterstellt werden darf, eine Formel, die der EGMR auch mit Bezug auf nationale höchstgerichtliche Judikatur wiederholt verwendet.[15]
Gleichwohl stellen sich bedeutsame Fragen, wenn der EuGH oder ein nationales Gericht über Eingriffe in die GRC zu judizieren haben[16] und die Rolle des EuGH könnte noch durch eine bereits rechtspolitisch nach dem Muster der EMRK geforderte Individualbeschwerde an Gewicht gewinnen.[17] Beide europäische Gerichte sind demnach einflussreiche Motoren der Grundrechte und -freiheiten und geniessen im Grossen und Ganzen die Akzeptanz der Vertrags- bzw Mitgliedsstaaten. Gleichwohl stufen zwei österreichische Autoren und eine deutsche Autorin in einem aktuellen Kompendium die Rolle des EGMR als schwierig im Verhältnis zu den nationalen Höchstgerichten ein, weil sich dieser in einer Schere zwischen der Akzeptanz durch die Vertragsstaaten und einer eigenständigen Rsp-Praxis befinde.[18] Mit dieser Konfliktlage müssen inter- und supranationale Instanzen allerdings leben, auch mit dem Problem sehr unterschiedlicher nationaler Rechtstraditionen und Wertvorstellungen. Und schliesslich stehen die verantwortungsbewussten Richterinnen und Richter auch vor jenen Grundsatzfragen, die seit gut 50 Jahren weltweit diskutiert werden: Soll eine Vertragsnorm dynamisch verstanden werden, wie dies zweifellos bei den politischen Grundrechten gehandhabt wurde? Gibt es in Europa Platz für „originalistische“ Ansätze[19] in der Auslegung der EMRK oder muss der EGMR in dynamischer Interpretation (wie der Gerichtshof zu Art 3 1. ZPEMRK judiziert hat) dem Wandel gesellschaftspolitischer Anschauungen und Wertungen Rechnung tragen? Vielfach hat sich der Gerichtshof für die letztgenannte Variante, die einzige, mit der heute breitere politische Akzeptanz zu erreichen ist, entschieden, aber nicht stets. Und das führt zu der auch im Folgenden thematisierten Frage, inwieweit nicht Gerichte, vor allem Verfassungsgerichte und supranationale Gerichte, auch eine bewahrende, retardierende und solcherart konservative Ausrichtung bezüglich „europäischer“ oder „westlicher“ Werte einnehmen, denn ohne eine dezisionistische Wertung lässt sich schwerlich ein Urteil in umstrittenen Fragen finden.
Einheitliches Schutzniveau und Vertretbarkeitskontrolle
Als supranationales Gericht, das neben der Auslegung der EMRK vorrangig die Wahrung der Menschenrechte in Europa als Aufgabe hat, kann der EGMR keine Kompromisse eingehen, wenn es um den Schutz von Leib und Leben und genuiner Verfahrensrechte geht. Deshalb ist bereits die Androhung von Folter durch Polizeiorgane verboten, die Anstiftung zu Verbrechen darf nicht zur Verfolgung jener Straftaten führen, welche Spitzel oder ein agent provocateur veranlasst haben. Aber viele Beschwerden, die vor den EGMR gebracht werden, wenden sich gegen Akte, die – meist deshalb weil die Grundrechte, die sie betreffen, unter einem materiellen Vorbehalt stehen – einer Abwägung zugänglich sind, etwa wenn eine Journalistin der Yellow Press in das Privatleben eines Prominenten eingreift und dafür medienrechtlich bestraft wird und ihrerseits die Verletzung der Meinungsfreiheit rügt. Hier eröffnen sich Spielräume, und zwar zunächst auf nationaler gesetzgeberischer Ebene, sodann in der Handhabung durch nationale Gerichte und endlich im wohlerwogenen Urteil des EGMR. Daher können die Pole zwischen einer blossen Vertretbarkeitskontrolle der Vollziehungsakte der Vertragsstaaten auf Basis nationaler gesetzgeberischer Entscheidungen und der feinen Elle europäischer Menschenrechtskontrolle nicht mit „Plus“ und „Minus“ umschrieben werden. Die hier unternommene Tour d‘Horizon durch die einzelnen Felder der Rsp des EGMR soll zeigen, dass man in einer Judikaturanalyse weitaus mehr unbestimmte bzw schwer bestimmbare Faktoren vorfindet, als sie mit der traditionellen Dichotomie “activism“/“restraint“ umschrieben werden können.[20]
Das Bild ist weitaus komplexer, wie die strenge Judikatur zur Einhaltung von Verfahrensgrundsätzen zeigt, in welcher der EGMR in Zivil- und Strafsachen massgebliche Grundsätze[21] stärker ausgeprägt hat, wie das Prinzip der sichtbaren Gerechtigkeit, die Waffengleichheit und damit Grundsatzaspekte eines fairen und zügigen Prozesses insgesamt.[22]
Das einheitliche Schutzniveau in Bereichen, wo es um Eingriffe in hochrangige Schutzgüter geht, kann vorweg ausser Streit gestellt werden.[23] Doch wie erklärt sich die Akzeptanz recht weit gehender Einschränkungen und Sanktionen gegenüber Kunstschaffenden etwa im Verhältnis zu wahrhaft biblischer Strenge gegenüber Ausschliessungsgründen im Wahlrecht? Und inwieweit ist der EGMR selbst Motor einer dynamischen Entwicklung? Und wenn sich der EGMR in manchen Fällen zurücknimmt, wie weit ist ein nationales Gericht ermächtigt, im Gefolge der EGMR-Judikatur den „Wertewandel“ (weiter) zu beschleunigen? All diese Fragen spielen herein, wenn die Kontrolldichte und die Frage untersucht wird, wann und wo der EGMR sich auf eine Vertretbarkeitskontrolle beschränkt und wo er sich eingehend mit der Erforderlichkeit und Angemessenheit von nationalen Vorschriften auseinandersetzt.[24]
Grundrechtsträger und deren Zugang zum EGMR
Menschenrechte und Schutz vor Diskriminierung
Was die Grundrechtsträger betrifft,[25] ist ein differenziertes Bild angebracht. Von Bedeutung ist hier, dass der EGMR in Anwendung des Art 11 EMRK (ihm folgend der VfGH) das Versammlungsrecht auf Nichtstaatsbürger anwendet und solcherart national ausgeweitet hat und dass durch die unten noch näher dargestellte Judikatur zu Art 14 EMRK der Diskriminierungsschutz auf Fremde ausgeweitet wird und eine Art Vehikel für ein akzessorisches Verbot bedeutet, Nichtstaatsbürger „willkürlich“ oder unsachlich zu benachteiligen.[26] Einerseits erweist sich der EGMR als ein Notanker des „kleinen Mannes“, als Helfer der Angehörigen von Minderheiten, Verfemten und als Schützer der „entrechteten Frau“, von transsexuellen und anderen in ihrer Integrität und ihren Privatheitsrechten Betroffenen; Entschädigungen lindern das Leid des Unrechts, das der EGMR vorfindet und als solches bezeichnet, oftmals auch für Angehörige, wenn der Geschädigte bereits verstorben ist.[27] Willkürkontrolle ist demnach auf europäischer Ebene auch ein Thema, wenn es um die Bestimmung der Grundrechtsträgerschaft und der Reichweite eines Menschenrechts geht.
Darüber hinaus dient die Judikatur zur Diskriminierung im Bezug von vermögenswerten Leistungen als eine indirekte Willkürkontrolle auch Personen, die auf Transferleistungen angewiesen sind. Grundsätzlich ist der EGMR gegenüber den Vertragsstaaten zurückhaltend, was die Etablierung solcher Leistungen überhaupt betrifft. Zwar müssen demnach Familien nicht zwingend gefördert werden, aber es gilt der Grundsatz: wenn es staatliche Leistungen gibt, dann müssen sie diskriminierungsfrei für alle Betroffenen verfügbar sein.[28] Auch hier hat die EGMR-Rsp den VfGH beeinflusst, der in seiner Judikatur der letzten Jahre auf die Voraussetzung verzichtet hat, dass nur dann Ansprüche bestünden, wenn Beitragsleistungen (wie zB zur Arbeitslosenversicherung; Notstandshilfe) erfolgten, wenngleich es in Fragen der Auslegung des Menschenrechts der Gleichheit von Fremden untereinander und des Spielraums für Differenzierungen Raum für unterschiedliche Auffassungen gibt.[29] Abgesehen von der Judikatur zu sozialen Aspekten[30] und der Ausweitung des Kreises der Grundrechtsträger stellt sich aber die Frage des gegenwärtigen und künftigen Zugangs zum EGMR.
Aktuelle Probleme des Rechtszugangs
Angesichts der Reform der Verfahrensregeln gelingt es immer weniger Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführern, die Schwelle in Strassburg zu überschreiten, seit Einzelrichter den formalen Zugang zu den Kammern hüten (was gewiss auch einer objektiven Notwendigkeit der Kanalisierung und Effizienz entsprach). Problematisch erscheint es indes Kritikern, dass in den letzten Jahren die Zulässigkeitsregeln immer strenger ausgelegt werden und nur mehr ein minimaler Bruchteil der Anträge zu einem Urteil führt, das den Parteien eine klare (inhaltliche) Antwort auf ihre Beschwerde gibt. In Zahlen bedeutet das für Österreich, dass in den Jahren 2018 und 2019, die schon statistisch erfasst sind, lediglich 3-4% zu einem Urteil geführt haben, wogegen der überwiegende Rest von 96% bereits in der Vorprüfung der Einzelrichter als unzulässig erachtet wurde.[31] Ob dies allein durch die vielen ausjudizierten Fragen erklärbar ist oder auf Überlastung hindeutet, bleibe dahingestellt. Die HUDOC-Datenbank weist immerhin fast 5.000 erledigte Fälle der Grossen Kammer und über 58.000 der einzelnen Kammern aus. Zusammen sind das seit der Neuordnung der justiziellen Organe in Strassburg über 63.000 Beschwerdefälle. Angesichts der Tatsache, dass ua auch Georgien, die Türkei und die Russische Föderation der Jurisdiktion des EGMR neben den EWR-Staaten unterliegen, ist das Thema Überlastung immer noch aktuell und erklärt die rigide, aber dennoch für den Menschenrechtsschutz in West- und Zentraleuropa nicht unproblematische Vorprüfungspraxis, die seit dem Wirksamwerden des 14. ZP (2010) Platz greift.
Einfluss auf die nationale Rechtsordnung, Gerichtspraxis und Dogmatik
Rezeption und Geltungsumfang
Der Einfluss der EMRK auf nationales Verfassungsrecht und die Befruchtung der nationalen Rsp durch den EGMR sind, wie bereits einleitend gezeigt wurde, auf mehreren Ebenen relevant. Es gibt allerdings gemäss den unterschiedlichen Traditionen unterschiedliche Begründungsansätze und auch mehrere Rezeptions-Modelle sowie Einordnungsversuche. In den hier relevanten und näher betrachteten Rechtsordnungen der schweizerischen Eidgenossenschaft, des Fürstentum Liechtenstein, der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland (BRD) finden sich mindestens drei unterschiedliche Modelle der Einordnung.
Während das schweizerische BG im Jahr 1991 klargestellt hat, dass die EMRK a) einen Mindeststandard an Rechten enthält, dass es sich dabei b) um ungeschriebenes Verfassungsrecht handelt und somit c) die Berufung auf die Rechte sowie auf verfassungsmässige Rechte erfolgen kann, verblieb in der BRD die EMRK nach den Vorgaben des Bonner GG auf Ebene eines einfachen Gesetzes. Gleichwohl geniesst die EMRK auch in Deutschland trotz ihrer einfachgesetzlichen Verankerung angesichts der Beachtung des Grundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit Beachtung in der Rsp. Andere Theorien, wie jene der Grundgesetzlichkeit der EMRK haben bisher weder das BVerfG noch die Lehre hinreichend überzeugt.[32] Das Fürstentum Liechtenstein folgt, soweit das hier von Bedeutung erscheint, insofern mit Modifikationen dem Schweizer Modell, als sich keine formelle Inkorporierung der EMRK in die liechtensteinische Verfassung 1921 findet, aber eine Berufung auf die Grundrechte der EMRK in einer Beschwerde vor dem StGH zulässig ist.[33] Implizit wird damit das subjektive, in der EMRK verankerte Recht zu einem verfassungsmässigen Recht des Betroffenen. Nach der Einrichtung des StGH und der 1925 erfolgten einfachgesetzlichen Umsetzung des StGHG, welches (vergleichbar mit dem aus dem Jahr 1921 stammenden VfGG[34] in Österreich) das Verfahren regelt, hat dieses Höchstgericht (scil der liechtensteinische StGH) eine wichtige Funktion zum Schutz der verfassungsmässigen Rechte entwickelt. Seit dem Jahr 1982 finden sich auch Entscheidungen über die behauptete Verletzung von in der EMRK verankerten Grund- und Menschenrechten.
Somit gilt auch die EMRK als Massstab grundrechtlicher Prüfung in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein, wobei aber die Schweiz das erste ZP zur EMRK aus 1954 (Eigentum, Bildung und Elternrecht, parlamentarisches Wahlrecht) nicht ratifiziert hat. Die hier angestellten Überlegungen zu diesen Grundrechten des 1. ZP ERMK haben daher für die Schweiz keine oder allenfalls eine indirekte Bedeutung.[35]
Das österreichische Modell
Hat sich die Inkorporation der EMRK in das österreichische Verfassungsrecht bewährt? Die Antwort auf diese rhetorische Frage ist mit Bezug auf die österreichische Rechtstradition zu geben. Der VfGH kann nur dann einen Verstoss einer Behörde oder eines Verwaltungsgerichts als Sonderverwaltungsgericht ahnden, wenn sich die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer auf ein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht berufen können; die authentische Klarstellung, dass die Rechte der EMRK solche „verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts“ bilden, war demnach erforderlich, um dieser national zum Durchbruch zu verhelfen. Die österreichische Lösung ist demnach landesspezifisch, denn im Falle der Berufung auf ein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht ist es unzweifelhaft, dass der Massstab ein höherer ist, als bei der (zur Überprüfung dem VwGH obliegenden) „einfachen“ Rechtsverletzung.[36] Da sich die genannten Rechte somit spätestens seit 1964 in der Verfassung selbst verankert finden, besteht auch kein Zweifel, dass sich im Rahmen der Normenkontrolle einfache Gesetze an diesem Massstab prüfen lassen.[37] Für die Gesetzgeber auf Bundes- und Landesebene bedeutet das, dass sie sich an dem höherrangigen Recht orientieren müssen und dies der VfGH auch im Wege abstrakter oder konkreter Normenkontrolle nachprüfen kann.[38] Die Republik Österreich steht aber mit der im Lichte der vom Stufenbautheorem beeinflussten Lehre[39] und einer dieser folgenden, sinnvollen Klarstellung des Gesetzgebers selbst, wonach die EMRK den Rang eines Bundesverfassungsgesetzes (BVG) hat, im internationalen Vergleich singulär da. Einerseits bedeutet der bereits 1964 für die Republik vom Gesetzgeber (authentisch) klargestellte Verfassungsrang der EMRK[40], dass sich die innerstaatlichen Organe nicht nur an die völkerrechtlichen Vorgaben halten, sondern die EMRK genauso wie das StGG 1867 und die Grundrechte im B-VG[41], Staatsvertrag von St. Germain 1919[42] (StVStG) und Staatsvertrag von Wien 1955[43] (StVW) anwenden müssen. Andererseits ersparte man sich die mit der GRC 2012 verbundenen Fragestellungen der innerstaatlichen Anwendung und der Reichweite eines supranationalen Katalogs.[44]
Genese des Rechtsschutzsystems (im Überblick)
Einerseits also entschloss sich demnach schon früh – in durchaus weiser Voraussicht – die einstige Koalitionsregierung 1964[45] für die Einbringung des BVG-Entwurfs zur Klarstellung des Verfassungsranges bestimmter völkerrechtlicher Verträge, den der Nationalrat mit Zweidrittelmehrheit beschloss. Andererseits unterwarf sich Österreich der Rsp der Strassburger Instanzen[46] und (später) der Weiterentwicklung dieses Rechtsschutzsystems durch das 11. und zuletzt das 14. ZP EMRK (dieses gilt seit 2010). Das bedeutete nach dem ursprünglichen Modell zunächst die zweistufige Einrichtung der EKOM und des EGMR, sodann die Alleinstellung des EGMR als ständiges, internationales Gericht für Menschenrechte, die Aufteilung der Zuständigkeiten beim EGMR und die Schaffung der Grossen Kammer sowie der einzelnen Kammern[47] und zuletzt die durch das 14. ZP EMRK bewirkte Neuordnung der Bestellungsdauer der Richter und die Verstärkung der Zuständigkeiten von Einzelrichtern und deren nichtrichterlichen Hilfsbeamten. Letztere können auch aus dem Land stammen, dessen Rechtsordnung auf dem Prüfstand steht. Grundsätzlich aber urteilen Richterinnen und Richter nicht über Menschenrechtsfragen des Herkunftsstaates.
In sieben Jahrzehnten der Geltung der EMRK auf völkerrechtlicher Ebene und in der länderweise unterschiedlichen Ära des Unterwerfens unter die EGMR-Judikatur kam es zu einer Vertiefung des Grundrechtsschutzes. In mancher Hinsicht weist die Rsp des EGMR eine bemerkenswerte Kontinuität auf, in anderen, wie zB dem einzigen, genuin politischen Grundrecht (Art 3 1. ZP EMRK) entwickelte sich die Judikatur dynamisch weiter;[48] zunächst von der – im Lichte des systematisch-teleologischen Kontexts legitimen – Umdeutung der Staatenverpflichtung in ein „echtes“ Grundrecht. Sodann in der Weiterentwicklung der Garantien regelmässiger freier (parlamentarischer) Wahlen, bei denen auch die Freiheit der Wahlbewerbung bestehen muss, in ein umfassendes Recht zu wählen und gewählt zu werden. In einem dritten Schritt hat der EuGH eine feine Elle angelegt, um jenen Personen, die aus Gründen des nationalen Rechts vom Wahlrecht ausgeschlossen sind, dazu zu verhelfen, dieses Recht gegebenenfalls durchzusetzen.[49] Indem der EGMR hier Differenzierungen einfordert, nach den Gründen für eine Verurteilung und deren Zusammenhang zu politischen Rechten zu unterscheiden, hat er es den Vertragsstaaten unmöglich gemacht, pauschale Lösungen zu treffen, auch wenn diese probat waren und einer Durchschnittsbetrachtung folgten.[50]
Aber auch auf Ebene des EGMR selbst und des Rechtsschutzsystems änderte sich einiges, nachdem immer mehr Staaten die Individualbeschwerde zuliessen. Dies forderte Massnahmen, weil der EGMR nicht wie der US Supreme Court die durch eine langjährige Rsp gefestigten Standards der Normenkontrolle nach Neuigkeit und Gravität des Falles ordnen kann.[51] Das Ergebnis der Straffung und Re-Organisation des EGMR war ein Einbruch, was die Zulässigkeit der Beschwerden betraf und damit eine Erschwerung des Zugangs zum Gericht selbst. Andererseits gewannen Urteile, die von der grossen Kammer gefällt wurden, an Gewicht.[52] Auch die Verlängerung der Bestellungsdauer auf neun Jahre erfolgte durch Art 21 des 14. ZP EMRK, das erst vor einem Jahrzehnt ratifiziert wurde.[53] Zunehmend wurde auch erkennbar, dass die materiellen Mittel und Subsidien, die jedes internationale Gericht braucht, von manchen Vertragsstaaten (zB RUS, UK) nicht mehr entsprechend aufgestockt wurden, zudem sind auch jene mitteleuropäischen Staaten der EU, die zugleich Vertragsstaaten des Europarats sind, in denen auch innerstaatlich Konflikte zwischen Politik und Verfassungsrichtern bestehen (wie Polen, Ungarn), naturgemäss auch keine grossen Unterstützer der supranationalen Strassburger Gerichtsbarkeit. Hingegen haben sich skandinavische Länder nach anfänglicher Skepsis zu treuen Vertragsstaaten der Konvention entwickelt, die auch selbst verfassungsrechtliche Vorkehrungen gegen eine konventionsfremde Gesetzgebung treffen (so wie zB das Königreich Schweden).
Der EGMR steht – das mag ein Gemeinplatz sein, ist aber auch sachlich begründbar – für die dynamische Weiterentwicklung grund- und menschenrechtlicher Schutzinstrumente auf Ebene des Europarates. Die Rsp entfaltet, anders als auf Ebene des EuGH, für die Schweiz und das Fürstentum Liechtenstein Wirksamkeit, erstreckt sich territorial auch auf die semi-autoritären Staaten Russland und die Türkei, was ein eminentes Konfliktpotenzial birgt. Obwohl die EMRK als zentraler Kanon der Menschenrechte, ergänzt durch UN-Pakte und die europäische GRC, für alle Staaten dieselbe Funktion und denselben Inhalt hat, sieht man unterschiedliche Einstufungen, was Rang und Wirksamkeit betrifft. Das macht den Rechtsvergleich spannend und verlangt eine differenzierte Betrachtung, denn die EMRK hat in jedem Mitgliedstaat ein eigenes Schicksal und hat die Weiterentwicklung der nationalen Gesetzgebung dennoch überall beeinflusst, wenn auch in unterschiedlichem Ausmass: Sie ist aber gleichwohl überall relevant. “The ECHR matters“, könnte man in Verwendung eines bereits etwas abgegriffenen Anglizismus sagen.
Willkür- und Diskriminierungsverbot
Terminologie auf Ebene der EMRK
Im Kontext mit der EMRK ist es sinnvoll, zwischen einem Willkürverbot und einem (akzessorischen) Diskriminierungsverbot zu unterscheiden.[54] Interessant erscheint zunächst, dass diese beiden grundlegenden Postulate rechtmässigen Handelns aus der EMRK nur interpretativ erschlossen werden können, wie eine reichhaltige Rsp beweist. Um eine Diskriminierung vor den Strassburger Gerichtshof zu bringen und in europäischer Supervision ahnden zu können, muss ein Konventionsrecht involviert sein. Hingegen hat Österreich das 12. ZP EMRK, das einen allgemeinen Diskriminierungsschutz ohne Bezug auf ein anderes Konventionsrecht enthält, nicht ratifiziert. Innerstaatlich schadet das aber der Effektivität des Grundrechtsschutzes nicht, da neben dem Gleichheitssatz und dessen Ausformungen im Lichte des RassDiskrBVG[55] auch Fremde untereinander sachlich behandelt werden müssen.[56] Und was den EGMR betrifft, findet sich eine klare auf das weit verstandene Eigentumsgrundrecht bezogene Judikatur, wonach niemand im Genuss bestimmter Sozialleistungen und Beihilfen diskriminiert werden darf.[57] Später wird noch auf diese Judikatur zurückzukommen sein, die vereinfacht gesagt, dem Grundsatz folgt, dass der EGMR nicht die Auswirkungen eines Systems (sozialer Zuwendungen) auf alle Betroffenen nachprüft; doch wenn hier ein Staat einen hohen Standard einrichtet, dann beschränkt sich der EGMR auf die Feststellung einer Diskriminierung im Einzelfall.[58]
Betrachten wir die Frage der Nicht-Diskriminierung als einen mit dem Willkürverbot eng verwandten Grundsatz, so finden wir in der Lehre den Hinweis auf nicht weniger als 21 Grundrechte (sie alle betreffen aus verschiedener Sichtweise unterschiedliche Aspekte der Nicht-Diskriminierung), die sich in sieben Rechtsquellen finden.[59] Neben diesen weiter unten noch genauer ausgeführten Grundrechten, kann auch mit Bezug auf die Kontrolldichte einzelner Grundrechte der Spielraum zwischen Willkürkontrolle im objektiven Sinn (als eine Art Vertretbarkeitskontrolle) und einer feineren Prüfung (der Einhaltung von konkreten Vorgaben wie zB den Garantien eines fair trial) unterschieden werden.
Als Anhaltspunkt diene die Feststellung des EGMR im Fall Johansen/NOR[60], mit der er die Bandbreite (bzw Variation) der Kontrolle ausgehend vom Sunday Times-Fall[61] definiert. Es ging dabei um die Frage, ob eine nationale Behörde in das Recht auf Privat- und Familienleben eingegriffen und dieses verletzt hatte, was der EGMR partiell bejahte, aber für die Frage der Inpflegenahme verneinte. Hier finden sich die Ausagen über den variablen Spielraum: “The margin of appreciation so to be accorded to the competent national authorities will vary in the light of the nature of the issues and the seriousness of the interests at stake. Thus the Court recognises that the authorities enjoy a wide margin of appreciation in assessing the necessitiy in taking a child into care.“
Hier herrscht ein beweglicher Rahmen, da es bestimmten Bereiche gibt (zB iZm vorbehaltlosen Grundrechten, wie dem Schutz des Lebens mit einem taxativen Ausnahmekatalog; Folterverbot), in denen die europäische Supervision besonders gefragt ist und sich daher ex definitione nicht auf eine Willkürkontrolle zurückziehen kann. In ähnlicher Weise gilt das auch für die Verfahrensgarantien im Straf- und Zivilrecht. So hat der EGMR die Elle in Bezug auf die Fairness und Beweisverbote im Strafprozess durchaus auch gegen nationale Traditionen feiner geschliffen und zB in der Rsp zum agent provocateur/undercover agent in der staatlichen Bekämpfung von Drogendelikten den nationalen Gerichten vorgegeben, wo diese Beweise nicht oder nur eingeschränkt verwerten dürfen.[62] Versteht man hier die vom EGMR zu untersuchende objektive Willkür als eine grobe Verletzung juristischer Denkgesetze oder von Verfahrensvorschriften, dann eröffnen Art 6 und Art 13 EMRK ein breites Anwendungsfeld für solche vom EGMR aufgegriffenen Fehler.
Somit kann nicht nur in der Rechtssprache zwischen unterschiedlichen Ausformungen von Willkür und der Willkürkontrolle unterschieden werden. Zudem kann in Willkürfragen zwischen subjektiver und objektiver Willkür differenziert werden; wenn eine Person oder eine Gruppe daher wegen spezifischer Eigenschaften (religiöser, sexueller, geschlechtsspezifischer, herkunfts- oder rassenbezogene Art, wegen einer Behinderung, einer politischen Einstellung oder einer Weltanschauung) diskriminiert wird, dann schwingt der Vorwurf subjektiver Willkür stets mit.
Willkürkontrolle gegenüber nationalen Gerichten
Kein Generalgrundrecht des Willkürverbots
Wie gezeigt wurde, ist die Frage, ob es ein explizites und generelles, objektives Willkürverbot gibt, differenziert zu beantworten. Zu verneinen ist dies im Kontext mit der EMRK im Sinne eines ausgeformten und positivierten „Generalgrundrechts“; zu bejahen ist dies in der Hinsicht, dass Fehler in der Beurteilung von Rechtsfragen objektiv willkürlich im Sinne eines groben Verstosses bei der Rechtsanwendung oder des Verfahrensrechts sein können. Es wäre daher ein vorschneller und oberflächlicher Befund, zu statuieren, dass es positivrechtlich betrachtet kein explizites Willkürverbot in der Konvention gibt. Vielmehr kann sich Willkür in unterschiedlichen Zusammenhängen und Fallkonstellationen darstellen lassen, auch wenn der EGMR nicht allzu häufig ausdrücklich den Begriff verwendet. Eine massgebliche Rolle spielt die Willkürkontrolle im Kontext mit der Frage, ob eine Diskriminierung in einem Konventionsrecht, wie dem Eigentumsrecht[63], stattgefunden hat. Bekanntlich hat der EGMR den Eigentumsschutz auch auf Beschränkungen jenseits der enteignungsgleichen Massnahmen eines Staates erweitert, wobei er einen „billigen Ausgleich“ zwischen dem Allgemeininteresse und dem Interesse des in seiner eigentumsrechtlichen Position betroffenen Menschen oder der Gesellschaft (juristischen Person) postuliert.[64]
Der EGMR überprüfte, wie im Folgenden anhand eines Beispiels zu zeigen ist, im Kontext mit diesen Grundrechten die Frage, ob ein nationales Gericht (hier der portugiesische Oberste Gerichtshof; Supreme Court of Portugal) „willkürlich“ (arbitrarily) gehandelt hatte. Nachdem er dies verneint hatte, nahm der EGMR diesbezüglich nur eine Grobkontrolle vor, ohne sich in den eigentlichen Rechtsstreit zu vertiefen. Dieser restraint war aber, wie im folgenden Kapitel genauer zu zeigen ist, Gegenstand der Kritik von zwei in der Abstimmung unterlegenen Stimmführern am EGMR.
Denn diese vertraten die Ansicht, dass ein unterschiedlicher Massstab zur Anwendung kam, je nachdem ob der Fall (wie von der Mehrheit angenommen) nur unter dem Gesichtspunkt des Art 14 EMRK iVm Art 1 1. ZPEMRK zu entscheiden war oder (hypothetisch) im Lichte des Art 6 EMRK betrachtet würde. Dieser Fall soll im Weiteren genauer betrachtet werden.
Beispiel aus der EGMR-Rsp zu einem Markenrechtsstreit
Von Interesse ist die ausdrückliche, wenn auch indirekte Bezugnahme auf das Willkürverbot im Fall eines Markenrechtsstreits in Portugal.[65] Zugleich ist es ein Beispiel für richterlichen restraint und die Akzeptanz einer nicht offenkundig unvernünftigen oder willkürlichen Entscheidung eines nationalen Höchstgerichts. Nicht unähnlich dem griechischen Reedereifall[66] ging es um einen gesetzgeberischen Eingriff, da eine bereits beantragte Markeneintragung rückwirkend durch ein Abkommen und ein nationales Gesetz als unwirksam erklärt wurde. Der EGMR sah indessen hier keine Verletzung des in Art 1 1. ZP EMRK verankerten Eigentumsrechts durch die Entscheidung des portugiesischen OGH. Dieser hatte in dem Markenstreit zwischen der US-Gesellschaft Anheuser-Busch Inc. (Rechteinhaberin des amerikanischen Budweiser-Biers) und der tschechischen Brauerei Budweiser, Budweis (Česke Budějovický Budvar; Brauerei des traditionellen europäischen Budweiser Biers, wie es auch im Wiener Prater/Schweizerhaus ausgeschenkt wird) im Effekt zu Gunsten letzterer entschieden und einen Antrag der amerikanischen Gesellschaft auf Priorität der Eintragung ihrer Marke in Portugal abgewiesen. Bei dem geprüften Eingriff handelt es sich um die Anwartschaft auf eine Marken-Registrierung und somit um eine „legitimate expectation“ auf ein vermögenwertes Recht iSd Art 1 1. ZP EMRK, sodass es hier nicht um „Eigentum“ im engeren (kontinentaleuropäischen) Sinn ging, wohl aber um eine vom EGMR aufgreifbare Beschränkung des Eigentums.[67]
Wichtig für die hier angestellte Untersuchung erscheint, dass der EGMR zum Schluss kam, dass sich der port OGH weder eine offensichtliche Unvernünftigkeit/Irrationalität in der Auslegung[68] noch Willkür zuschulden hatte kommen lassen, indem er aufgrund einer internationalen Vereinbarung zwischen der Republik Portugal und der (damaligen) ČSSR aus 1986 die Prioritätenregel der Eintragung ins portugiesische Markenregister zu Gunsten einer europäischen Herkunftsbezeichnung unbeachtet gelassen hatte. Der Anwendungsbereich des europäischen Eigentumsbegriffs ist weit und umfasst auch Anwartschaftsrechte auf vermögenswerte oder eigentumsgleiche Rechtspositionen. Umstritten und nicht ausjudiziert ist allerdings, ob dieser auch für nicht realisierte Forderungen gilt wie zB für Anfechtungsrechte im Insolvenzverfahren, mit denen neuerdings Handel getrieben wird. Ob tatsächlich der Erwerber eines Anfechtungsanspruchs durch Art 1 1. ZP EMRK geschützt ist, vor allem wenn das Abtretungsentgelt ungewöhnlich niedrig ist und Spekulation zu Ungunsten von Gläubigerinteressen im Raum steht, bleibe daher dahin gestellt. Gute Gründe sprechen dafür, dass die EMRK nur gutgläubige und auch, was die Angemessenheit des Güteraustausches und die Schutzwürdigkeit der Erwartung betrifft, nur redliche Erwerber schützt, aber keine „Investoren“, die sich in Insolvenzverfahren von aussen einschalten, um satte Gewinne zu erzielen. Der österr OGH hat unlängst die Zulässigkeit der entgeltlichen Abtretung von Anfechtungsrechten bejaht und sich dabei heftige dogmatische Kritik eingehandelt[69]. Er OGH will die Abtretbarkeit nur dann nicht zulassen, wenn sie offensichtlich rechtsmissbräuchlich ist, die Angemessenheit des Entgelts sei hingegen irrelevant[70].
Laut EGMR hatte die beschwerdeführende Gesellschaft allerdings nur eine „begründete Erwartung“ auf Eintragung, was zu einer abweichenden Stellungnahme zweier Richter(innen), darunter der österreichischen Richterin Steiner führte,[71] die aber dennoch mit den 13:2 für die Abweisung stimmten (joint concurring opinion). Auch zwei weitere Richter, die gegen die Entscheidung gestimmt hatten, gaben ein Minderheitenvotum ab, das ebenfalls nicht die Anwendbarkeit des Art 1 des 1. ZP EMRK auf Anwartschaften auf Markeneintragungen grundsätzlich ablehnte. Im Übrigen ist hier auf die Hintergründe des Falls nicht weiter einzugehen; hier sind die zwei massgeblichen Absätze des Urteils, in denen der EGMR eine willkürliche (arbitrary) bzw unvernünftige/irrationale (unreasonable) Auslegung der massgeblichen Rechtsvorschriften durch den port OGH verneinte. Ausnahmsweise werden die namhaften Passagen hier wörtlich zitiert, die betreffenden Hinweise auf Willkür sind mittels Unterstreichen/Kursivsetzung erkennbar gemacht worden:
“85. These are questions whose rightful place was before the domestic courts. The Supreme Court decided in its judgment of 23 January 2001 to reject the applicant company’s argument based on an alleged violation of the priority rule. In the absence of any arbitrariness or manifest unreasonableness, the Court cannot call into question the findings of the Supreme Court on this point.
86. Nor is it for the Court to review the Supreme Court’s interpretation of the Bilateral Agreement, which was contested by the applicant company. It would merely note here that the applicant company was afforded the opportunity, throughout the proceedings in the Portuguese courts, to indicate how it interpreted both that Agreement and the other legislation it considered applicable to its case and to inform the Portuguese courts of the solution it considered best adapted to the legal issue raised by the case. Confronted with the conflicting arguments of two private parties concerning the right to use the name “Budweiser” as a trade mark or appellation of origin, the Supreme Court reached its decision on the basis of the material it considered relevant and sufficient for the resolution of the dispute, after hearing representations from the interested parties. The Court finds no basis on which to conclude that the decision of the Supreme Court was affected by any element of arbitrariness or that it was otherwise manifestly unreasonable.
87. In the light of the foregoing, the Court therefore concludes that the Supreme Court’s judgment in the instant case did not constitute interference with the applicant company’s right to the peaceful enjoyment of its possessions. There has, therefore, been no violation of Article 1 of Protocol No. 1.”
Vollziehungsfehler und objektive Willkür
Auf nationaler Ebene spielt die objektive Willkür vor allem in einer schon lange eingeführten Formel des VfGH eine Rolle, die hier nicht mehr ausgebreitet werden muss und die sich ua auf ein „gehäuftes Verkennen der Rechtslage“ durch eine Behörde, auf das „Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit“ in einem wesentlichen Punkt,[72] auf ein fehlendes Abwägen konkurrierender Rechtspositionen (vor allem, aber nicht nur der Grundrechteabwägung[73]) oder auf eine der Gesetzlosigkeit gleichzuhaltende, „denkunmögliche“ Rechtsanwendung bezieht.[74] Zunächst ist festzuhalten, dass kaum ein Begriff im allgemeinen Sprachgebrauch soweit unterschiedlich bzw anders verwendet wird als in der Rechtssprache, wie jener der „Willkür“. Wer Deutsch lernt oder seit Kindheit an spricht, deutet Willkür im subjektiven Sinn als ein Verhalten, das unsachlicher Weise auf besondere Merkmale einer Person abzielt.[75] Der Begriff der objektiven Willkür ist hingegen ein rechtswissenschaftlicher Begriff, der eine vor allem von der Judikative geprägte spezielle Bedeutung hat, die zwar auch pejorativ ist, aber einen anderen Begriffsgehalt, im Kern und im weiteren Umfeld hat.
In der nationalen Grundrechtsprüfung des österreichischen VfGH ist objektive Willkür seit jeher ein Aspekt besonders qualifizierter Rechtsverletzung.[76] Hier braucht nicht eigens darauf eingegangen werden, dass nach der langjährigen Rsp Willkür in der Vollziehung dann vorliegt, wenn die Behörde (oder das Verwaltungsgericht (VwG)) gesetzlos agiert, der Bescheid oder das Urteil der in diesem Fall als Mittelinstanz zwischengeschalteten VwG gesetzlos ergeht oder die Behörde bzw das VwG dem Gesetz einen denkunmöglichen Inhalt beimisst, ein Fehler, der in seiner Schwere der Gesetzlosigkeit gleich kommt. Gerade in dieser Wortwahl liegt aber auch ein Problem, das über das rein Atmosphärische hinaus geht. Denn solange der österreichische VfGH zuständig war, als Sonderverwaltungsgericht Bescheide zu überprüfen, war der Vorwurf der objektiven Willkür (Gesetzlosigkeit, Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit, Denkunmöglichkeit, Unterstellen eines verfassungs- oder gesetzwidrigen Inhalts) in dieser Schärfe womöglich in bestimmten Fällen gerechtfertigt.[77] Hingegen ist in der durch die B-VG Novelle 2012[78] und seit 1.1.2014 wirksamen Rechtslage stets ein Gericht, im öffentlichen Recht eben ein VwG, vorgeschaltet; daher mag zB der Vorwurf mangelnder Abwägung ein schwerwiegender sein, aber dass auch hier „automatisch“ Willkür obwaltet, scheint hinterfragenswert. Wenn die Formeln, wonach ein VwG Willkür übt, wenn die genannten Voraussetzungen vorliegen, auch in der Lehre mit Hinweisen auf die Judikatur vor 2012 belegt werden, dann scheint es, als ob sich ausserhalb des VfGH niemand ernsthaft Gedanken über eine Abmilderung der Formulierung oder über eine Veränderung des Massstabes gemacht haben dürfte.[79] Jedenfalls bewirkt aber eine solche Behandlung von oben herab,[80] die dem VwG Willkür beimisst, Frustration in den geprüften Instanzen und wirkt sich womöglich auch auf das Vertrauen in die Justiz aus. Andererseits ist Willkür eine im juristischen Kontext schon lange gebrauchte Terminologie, die sich im Fall des Unterlassens der Ermittlungstätigkeit oder gehäufter Rechtsanwendungsfehler als treffend erweisen kann.[81] Dennoch wäre es überlegenswert, künftig diese Aspekte unter neutraleren Titeln der (allenfalls grob) fehlerhaften Auslegung oder von (allenfalls gehäuften) Verfahrensfehlern abzuhandeln. Gleichwohl ist Willkür oder arbitrariness ein Aspekt der Rechtssprache, der getrennt vom allgemeinen Sprachgebrauch zu sehen ist. Ein Gesetz, dessen Auslegung objektiv historisch und sprachlich klar ist, darf von einem Untergericht nicht willkürlich umgedeutet werden. Transjudiziell betrachtet kommt dies auch in einer Formel zum Ausdruck, die der US Supreme Court 1984 entwickelt hat.[82] Wann allerdings diese Voraussetzungen vorliegen, lässt sich schwer verallgemeinern.[83]
Gleichheit, Diskriminierungsverbote und materielle Vorbehalte
Zusammenhang mit Gleichheitsfragen
Der Kern des Willkürvorwurfs im subjektiven Sinn bezieht sich – anders als die oben geschilderte objektive Willkür – auf eine Ungleichbehandlung ohne sachliche Rechtfertigung und steht damit in engem Zusammenhang mit Gleichheitsverbürgungen und dem Minderheitenschutz. Vor bald 60 Jahren hat Felix Ermacora[84], zu einem Zeitpunkt als noch weitaus weniger Aspekte von Gleichheit und Diskriminierungsschutz positivrechtlich verankert worden waren[85], unter Berufung auf ein UN-Papier einen Definitionsversuch für Diskriminierungen von Minderheiten vorgelegt: „Diskriminatorische Praxis ist jene nachteilige Unterscheidung, welche nicht Eigentümlichkeiten des Menschen als solche in Rechnung stellt, sondern Eigenschaften, die ausschliesslich Angehörigen einer bestimmten sozialen oder anderen Gruppe eigen sind.“[86] Diese Definition taugt auch als Umschreibung des soziologischen Begriffs des Gruppen-Vorurteils, verbunden mit einer entsprechenden nachteiligen Praxis führt sie zu Diskriminierungen.
Daraus folgt, dass sich im Kontext mit dem Minderheitenschutz eine Ungleichbehandlung nicht auf eine Gruppe nachteilig beziehen darf, die anders als die sonstige Bevölkerung behandelt wird, ohne dass es eine sachliche Begründung dafür gibt. Hingegen kann eine Privilegierung, vor allem auf Grund völkerrechtlicher Vorschriften (Art 6 StVW) geboten sein. Zwischenzeitig ist die Ausdifferenzierung der Diskriminierungstatbestände weit voran geschritten, sie umfasst ua auch die Gleichbehandlung Fremder untereinander[87] und erfüllt mit allgemeinen Diskriminierungstatbeständen jene Postulate, die Ermacora damals weit vorausschauend erhoben hatte.[88]
Ausbau der Gleichheitsverbürgungen
Vergleicht man die im Jahr 1963 von Ermacora in durchaus bahnrechender Weise systematisierten Grundfreiheiten und Menschenrechte mit den heutigen, so zeigt sich auf Ebene des Diskriminierungsschutzes im Wege der Anwendung der Gleichheitssätze Folgendes:[89] Allgemeine und besondere Gleichheitssätze enthalten – für Österreich – einerseits Art 2 StGG und Art 7 B-VG mit seinen im Lauf der Entwicklung ausgebauten Spezialverbürgungen, anderseits die Art 21-23 GRC.[90] In den einzelnen Rechtsquellen sind diverse, hier nicht weiter zu verfolgende Aspekte der Diskriminierung (Behinderung, Geschlecht, Rasse, Religion, sexuelle Ausrichtung, Staatsangehörigkeit) ausdrücklich genannt.
Was die allgemeine Gleichheitsverbürgung in der EMRK und ihren Zusatzprotokollen betrifft, hat Österreich das 12. ZP nicht ratifiziert. Daher gilt auf Ebene der EMRK nach wie vor das akzessorische Verbot der Diskriminierung in einem Konventionsrecht. Dies kann anhand von zwei Beispielen verdeutlicht werden: Das Diskriminierungsverbot in seiner Verbindung mit dem Eingriff in vermögenwerte Positionen ist durch Art 14 iVm Art 1 1. ZP EMRK geschützt; Diskriminierungen in der Ausübung des Wahlrechts soll Art 14 EMRK iVm Art 3 1. ZP EMRK hintanhalten.[91] Auch eine Diskriminierung im Bildungszugang (zB durch einen unsachlichen Schlüssel bei Studienzugangsprüfungen) ist denk- und ahndbar.[92]
Zwar ist nach der vorwiegenden Meinung die konkrete Ausgestaltung bzw Formulierung einzelner Grundrechte der EMRK nicht so entscheidend für die Variation der Kontrolldichte durch den EGMR.[93] Anders als im nationalen (Verfassungs-)Recht ist daher weniger die dogmatische Auslegung nach den überkommenen Interpretationstheorien durch die Lehre entscheidend als das Caselaw-System, das bestimmte Fallgruppen erkennen lässt.[94] Aber dennoch sind jene Ansätze auch dogmatisch verfolgenswert, die im Diskriminierungsverbot (Art 14 EMRK) und in den materiellen Vorbehalten der Art 8 ff EMRK grundgelegt sind.[95] Art 14 EMRK gewährleistet bekanntlich ein akzessorisches Diskriminierungsverbot, das im Kontext mit dem Eingriff in ein (anderes) Konventionsrecht wirksam und justiziabel wird. Dementsprechend bezieht sich die Willkürkontrolle vielfach auf eine Prüfung, ob eine natürliche oder eine juristische Person[96] aus unsachlichen Gründen im Genuss eines Konventionsrechts benachteiligt wird. Dies ist in der aktuellen Auslegung durch den EGMR vor allem der Fall, wenn ein Vertragsstaat Transferleistungen oder Unterstützungszahlungen willkürlich einer Gruppe oder einer bestimmten Person vorenthält. Hier zeigt sich die akzessorische Wirkung des Art 14 EMRK deutlich; der Staat wäre angesichts des weiten Spielraums in Art 1 Abs 2 1. ZP EMRK nicht verpflichtet eine bestimmte soziale Leistung überhaupt zu erbringen; falls diese aber vorgesehen ist, darf niemand unsachlich von dieser, das Eigentumsrecht affektierenden Leistung ausgeschlossen werden.[97]
Überlegungen zur Auslegungspraxis
Wie ein Vertragsstaat die EMRK in sein Rechtsystem einordnet, wird – wie bereits im Eingangskapitel erläutert wurde – weder von der Konvention noch vom EGMR vorgegeben. Massgeblich sind die spezifisch völkerrechtlichen Verfahren der Ratifikation. Nach den Grundsätzen des Völkervertragsrechts, das hier zur Anwendung kommt, kann der Ratifikationsstand der Vertragsstaaten für einzelne Zusatzprotokolle variieren. So hat die Schweiz nie das erste, Österreich nicht das zwölfte Zusatzprotokoll ratifiziert. Dieser unterschiedliche Befund der geltenden Konventionsrechte beeinträchtigt aber einen europäischen Standard nur in einem minderen Ausmass. Denkbar ist es, die Umsetzung des europäischen Grundrechtsstandards nicht nur als gemeinsames Erbe (common heritage), sondern auch als Teil des Völkergewohnheitsrechts anzusehen.
Sofern die Jurisdiktion des EGMR anerkannt wurde, kann jeder Vertragsstaat wegen Vertragsverletzung belangt und auch zu Entschädigungszahlungen an Beteiligte verurteilt werden. Daher ist jeder Vertragsstaat gehalten, den Rechten der Konvention zum Durchbruch zu verhelfen. Auf Grund der innerstaatlichen Rezeptionsmechanismen und der voneinander abweichenden Judikatur des deutschen BVerfG, des schweizerischen BG, des liechtensteinischen StGH und des österreichischen VfGH stellen sich die eingangs angesprochenen Fragen des „Ranges“, der Wirkung und der Leitfunktion der EMRK[98], im Spektrum zwischen nationaler Verfassung und einfachem Gesetz.
Im Weiteren geht es um die Analyse der auf Willkürverbote bezogenen Rsp des EGMR und um die Konturierung der – vom EGMR selbst nicht so genannten – Vertretbarkeitskontrolle, und damit insgesamt um ein besseres Verständnis der Auslegungspraxis des Strassburger Gerichtshofes. Dies kann aber nur anhand der Vertiefung einzelner, ausgewählter Bereiche der Rsp vor sich gehen. In diesem Rahmen behandelt dieser Beitrag Phänomene, die oftmals anders benannt oder bezeichnet werden und uns unter anderen Titeln begegnen. Es geht um das Spektrum zwischen Evidenz- oder Vertretbarkeitskontrolle (Grobprüfung) einerseits und weit gehenden Feinprüfungen mit dynamischen Ergebnissen andererseits. Dieses Phänomen hängt mit dem in manchen Bereichen (wie der Moral und Religion als Rechtfertigung von Eingriffen) geübten judicial self restraint zusammen. Deshalb wird auch auf die Judikatur zur Fristenlösung eingegangen. Ein weiteres Beispiel für restraint findet sich in der Rsp zu Art 10 EMRK, wenn sich ein Konfliktfall mit der Privatheit bildet. Activism wurde in der Weiterentwicklung des politischen Rechts auf freie Wahlen erkannt, darüber hinaus mit Bezug zu den Rechten auf Ehe und Familienleben seitens Angehöriger der LGTB-community und in der konsequenten Judizierung zum Schutz der Wissenschaftsfreiheit der Sanktionierung neonazistischer und rechtsradikaler Eingriffe.
Auf die unterschiedlichen Ausprägungen zwischen judicial activism/retraint muss daher stets auch ein Blick geworfen werden. Auf die Schere, die sich hier zwischen einzelnen Grundrechten eröffnet, wird am Beispielfall einzugehen sein. Auch was den Nachvollzug betrifft, wurden bereits Problemfelder geortet. So ist bei aller Harmonie nicht zu leugnen, dass es auch aus österreichischer Sicht Konfliktfelder gab und gibt, in denen zunächst ein Auseinanderklaffen der nationalen Einstufung des Rechtsschutzsystems und der Judikatur des EGMR erkennbar wurden. Dies begann Mitte der Sechzigerjahre vor allem im Kontext mit Art 6 EMRK und der Anwendung in dem, was den Rechtsschutz betraf, vielfach defizitären Bereich des österreichischen Grundverkehrsrechts[99] und setzte sich in mehreren Urteilen betreffend Verletzung der Grundsätze der sichtbaren Gerechtigkeit in der überlangen Verfahrensdauer fort.[100] Schon die Anfänge im Umgang mit einem internationalen Kontrollorgan erwiesen sich nach dem Euoparatsbeitritt 1958 als holprig. Knapp drei Jahre nach dem StVW 1955 und dem UN-Beitritt Österreichs, die beide in einem „annus mirabilis“ (Gerald Stourzh) stattfanden,[101] musste die Zweite Republik zunächst Gehversuche auf dem internationalen Parkett des Menschenrechtsschutzes unternehmen. Dieses Phänomen hat sich nach 1990 auch in manchen mittel- und osteuropäischen Ländern gezeigt. Daher kann es hilfreich sein, die Isolation, die sich die Republiken Ungarn und Polen heute einhandeln durch die kritische Brille zu betrachten, die vielfach auch in Österreich in der Überzeugung ein Musterstaat der Menschenrechtsstandards zu sein, in der Vergangenheit fehlte.
Dies lässt sich auch historisch belegen. Nach dem Beitritt Österreichs 1958 kam es zunächst zu Unklarheiten über den Rang der EMRK, der wie erwähnt schon 1964 bundesverfassungsrechtlich klargestellt wurde. Die in den 1970er und 1980er-Jahren stärker einsetzende und das Rechtsschutzsystem kritisch hinterfragende Rsp zu österreichischen Anlassfällen in den Bereichen Grundverkehr, gewerbebehördlicher oder baurechtlicher Genehmigungen, brachte aber eine Fülle an Kontroversen mit sich, von denen jene über den Fall Miltner[102] vermutlich die gravierendste war. Zunächst weigerte sich Österreich standhaft, sein Rechtsschutzsystem grundlegend anzupassen, doch bereits mit den „Unabhängigen Verwaltungssenaten“ wurden hybride, tribunalähnliche Einrichtungen geschaffen; seit der B-VG-Novelle 2012, die Anfang 2014 wirksam wurde, hat die 9+2-Lösung der Verwaltungsgerichte Abhilfe geschaffen und eine weit gehende, inhaltliche Kontrolle durch das zuständige VwG ermöglicht, ehe gegebenenfalls die Höchstgerichte (VwGH, VfGH) im Weg der Erkenntnisbeschwerde oder im Revisionsweg angerufen werden können. Auch gegenüber den VwG hat der VfGH seine Willkürkontrolle in modifizierter Form weiter ausgeübt, wie bereits oben ausgeführt wurde.[103]
Wesentliche Impulse kamen somit seitens der EMRK und der Rsp des EGMR vor allem im Bereich der Verfahrensgrundrechte, sie regten den Gesetzgeber zu tiefgreifenden Anpassungen des Rechtsschutzystems an und sind damit ein Motor des Fortschritts gewesen. Wie schon im Vorspann angeführt, unterscheiden sich Aufgaben des EGMR von jenen der nationalen Höchst-, insbesondere der Verfassungsgerichte. Als „Hüter der Konvention“ hat der EGMR auch eine dynamische Fortentwicklung einzelner Gewährleistungen vorgenommen wie anhand der politischen Grundrechte (vor allem Art 3 1. ZP EMRK) gezeigt werden kann.[104] Gleichwohl beschränkt sich der EGMR in vielen Bereichen der klassisch-liberalen Grundrechte (Privatheit iSd Art 8 EMRK; Informationsfreiheit iSd Art 10 EMRK; Art 1 1. ZP EMRK – Eigentum/Steuerrecht) auf eine Vertretbarkeitskontrolle. Aus der jüngeren Rsp ist hier ua die Akzeptanz nationaler Anti-Dopingmassnahmen bei sogenannten Pre-competition-tests zu nennen. Hier ortet der EGMR zwar einen Eingriff in die Privatheitsrechte und in das Recht auf Familienleben der Athleten, akzeptiert aber die durch den Welt-Antidopingverband vorgegeben Vorschriften, wonach sich Spitzensportausübende auch in der Trainingsphase für Tests bereit halten und Auskunft über ihren Aufenthalt und Zeitfenster für Tests geben müssen.[105]
Die variierende Kontrolldichte des EGMR hat unterschiedliche Gründe und Ansatzpunkte. Der EGMR prüft gravierende Eingriffe in hochrangige Rechtsgüter streng (Art 2 EMRK - Recht auf Leben; Art 3 EMRK - Folterverbot[106]). Angesichts der Vorbehaltlosigkeit und der Wichtigkeit eines europäischen Standards kann daher konstatiert werden, dass der EGMR hier keinen restraint übt. Hingegen findet sich eine Beschränkung auf eine Evidenz- und Vertretbarkeitskontrolle vor allem in wirtschaftlichen und weltanschaulichen Belangen. Auch im Kontext mit der Meinungsfreiheit kommt es oftmals zu Kollisionen einzelner Grundrechtspositionen, was dann eine zurückhaltende Prüfung der Eingriffe in die Informationsfreiheit bedingt. Der EGMR hält es daher für zulässig (allerdings nur sofern eine Sanktion verhältnismässig ist), dass auch journalistische Eingriffe in die Privatheitsrechte geahndet werden. Dies etwa, wenn eine abfällige Kommentierung die Frau eines Politikers betrifft, die selbst gar nicht in der Öffentlichkeit steht.[107] Die selbst nicht in der Öffentlichkeit stehenden Personen sind daher weitgehend zu schützen. Intime Fotos und andere massgebliche Eingriffe in die Privatheit dürfen aber auch von public figures nicht angefertigt werden. Auch diese sind bis zu einem gewissen Grad geschützt, so dass die Verletzung der Privatsphäre gegebenenfalls sanktioniert werden darf. Hier spielt es auch eine Rolle, dass der EGMR kein legitimes Interesse der Öffentlichkeit erkennen kann, über derartige Details des Lebens Prominenter haargenau unterrichtet zu werden, auch wenn diese ihr Leben oft selbst den Klatschspalten exponieren oder sogar via soziale Medien Einblick gewähren. Dies soll im Folgenden näher behandelt werden.
Darüber hinaus kann auch konstatiert werden, dass ein Spielraum der Vertragsstaaten dort besteht, wo es um den Schutz regionaler oder nationaler Moral- und Sittenüberzeugungen und von Lehren der Religion geht. Im Unterschied zum EGMR liess der EuGH im Jahr 2019 den Respekt vor einer jahrzehntelang konsensualen Regelung des Karfreitags zugunsten der Angehörigen der in Österreich eine Minderheit darstellenden evangelischen Kirchen AB und HB, der Methodisten und der Altkatholiken vermissen.[108] Auch hier findet sich in der beweglichen Festlegung eines Rahmens einer jener Bereiche, in dem der EGMR nationale Besonderheiten respektierte. Geht es hingegen um die wissenschaftliche oder publizistische Tätigkeit, die unter der Drohung strafrechtlicher Verfolgung steht, ist die Elle deutlich feiner geworden. Hier hat sich der oftmals kritisierte judicial restraint verändert und eine differenzierte Judikatur Platz gegriffen, die womöglich schon bei der Drohung mit Strafsanktionen die Meinungsfreiheit und das Privatleben des Wissenschafters schützt.[109]
Schliesslich ist es für die dynamische Entwicklung der Rsp des EGMR auch von Bedeutung, dass sich Wertesysteme und Anschauungen ändern, was indirekt in die Auslegung von Grundrechtsnormen einfliesst. Zu denken ist hier an den Bedeutungswandel, dem offenkundig der Begriff der Ehe auf dem Prüfstand der Grenzorgane unterliegt, nachdem es auch nationale Verfassungsgerichte zunehmend ablehnen, diesen traditionell im Sinne einer objektiv-historischen Interpretation vorgefundener familienrechtlicher Rechtsnormen (auf einfachgesetzlicher Ebene) zu interpretieren.[110]
Vertretbarkeitskontrolle
Grobprüfung, Evidenz- und Erforderlichkeitsprüfung
Durch die materiellen Vorbehalte ist der EGMR von den Vorgaben der Konvention her in ein Prüfungsschema eingebettet, das sich als beispielhaft auch für nationale Gerichte erwiesen hat und zwar selbst dort, wo das positive Recht schweigt.[111] Die Formeln, die sich nationale Verfassungsgerichte zu eigen gemacht haben, zeigen vielfach Überschneidungen mit der Grobprüfung öffentlicher Interessen, der Tauglichkeits- und Erforderlichkeitsprüfung und der allenfalls weiter gehenden Prüfung der Adäquanz oder Verhältnismässigkeit im engeren Sinn (Ziel-Mittel-Relation); in aller Regel erfolgt der wertende und das Urteil tragende Schritt erst auf dieser Ebene der Prüfung.
Dennoch kann sich auch die Erforderlichkeitsprüfung als schwierig erweisen, vor allem wenn die inkriminierte Handlung derentwegen auf nationaler Ebene ein Eingriff (zB Strafe, Beschlagnahme, Verfall, Disziplinierung, Aufforderung zur Unterlassung) erfolgte, sich selbst als durch ein Grundrecht geschützt erweist. So haben die bekannten, ausjudizierten Fälle oftmals in jenem Bereich stattgefunden, in denen eine nationale Behörde etwa aus Gründen der Blasphemie den Schutz der öffentlichen Ordnung oder der Rechte Dritter (zB jener religiöser Menschen) höher bewertete als die Freiheit künstlerischer oder medialer Darstellung. Was Österreich betrifft ist dies etwa in der (laut EGMR angemessenen) Bestrafung einer Politikerin, die sich abfällig auf Grund unwahrer und nicht belegter Tatsachenbehauptungen über den Propheten Mohammed äusserte, zum Ausdruck gekommen.[112] Karikaturen oder eine humoristische Darstellung sowie wertende Urteile, die man nicht in ihrem pejorativen Gehalt teilen muss, liegen im menschenrechtskonform nicht sanktionierbaren Rahmen, hingegen müssen sich nach dem Medienrecht Tatsachenaussagen auf fundierte Quellen stützen können.
Diese Ergebnisse lassen sich dogmatisch auf der Ebene einer Tauglichkeits- und Erforderlichkeitsprüfung stringent bestätigen. Die Sanktionierung problematischer Aussagen ist grundsätzlich ein geeignetes Mittel, um exzedierende Polemik zu verhindern. Zu einem anderen Ergebnis käme man nur, wenn man verlangte, dass der Staat aus grundrechtlicher Sicht ein milderes Mittel als eine Strafe für prekäre „religionskritische“ oder polemische Äusserungen einsetzt. Doch dies liegt im Ermessensspielraum (domestic margin) der Gerichte. Aus Sicht eines Grenzorgans wie des EGMR steht die Frage im Vordergrund, ob die offenkundige Herabsetzung des Gründers und Propheten einer Minderheitsreligion durch die Meinungsfreiheit gedeckt ist und solcherart straffrei zu bleiben hätte oder ob es adäquat ist, wenn ein Gericht die Betroffene und Beschwerdeführerin zu einer verhältnismässig milden Strafe verurteilt. Zu bedenken ist, dass Art 10 Abs 2 EMRK darauf verweist, dass die Ausübung der Meinungsfreiheit auch auf Seiten der Grundrechtsträger Verantwortung mit sich bringt. Auch in einer demokratischen Gesellschaft kann daher ein Sanktionsmechanismus wie er im Medienstrafrecht und im StGB verankert ist, erforderlich sein, um gewisse Schutzgüter abzusichern. Darunter fallen auch die öffentliche Ordnung, die Erhaltung des friedlichen Nebeneinanders einer heterogenen Gesellschaft und die achtsame Koexistenz der Religionsgemeinschaften und Bekenntnisgruppen untereinander.
Der Aspekt des Schutzes des Religionsfriedens wurde in der Vergangenheit in der Rsp des EGMR entscheidend, als es um die Nachprüfung der Zulässigkeit von Eingriffen in die Filmkunst bzw die öffentliche Aufführung von Filmen ging. Diese Eingriffe bestanden in der Beschlagnahme und einem Aufführungsverbot eines Films mit vermeintlich blasphemischem Inhalt.[113] Ob diese weit gehende Unterbindung der Meinungsfreiheit im Lichte des Rechts auf freie Sendung und Empfang von Informationen aller Art, gerechtfertigt war, kann hinterfragt werden. Waren derartige Massnahmen tatsächlich in einer „demokratische Gesellschaft“ zur Zielerreichung (zB zum Schutz der Rechte Dritter, zur Aufrechterhaltung des ordre public) erforderlich?
Am Beispiel der Informations- und Kunstfreiheit
Im Kontext mit der Kunstfreiheit gehen die Ansichten auseinander, vor allem wenn es sich um Medienberichte, Kommentare oder Kunstwerke (Filme) handelt. Der EGMR muss die Erforderlichkeitsprüfung jedenfalls in wohl erwogenem richterlichen Ermessen treffen und er hat sich in der Vergangenheit im Sinne eines judicial self restraint offenkundig auf eine Vertretbarkeitskontrolle beschränkt. Dennoch geriet die Rsp in Kritik, da sie im Grundrechtskonflikt den Schutzgütern der Vorbehalte den Vorrang vor der künstlerischen Entfaltung und der Informationsfreiheit gab, wie sogleich näher auszuführen ist.
In den angesprochenen Fällen aus den 1990er-Jahren zeigte sich eine grosse Zurückhaltung des EGMR, die in der Rsp und Lehre dokumentiert ist. Für Österreich war vor allem der Fall Otto Preminger-Institut[114] relevant, in dem es um die angesprochene Beschlagnahme von Filmen mit blasphemischen Inhalten (so die Würdigung der Behörden) ging; Grabenwarter/Pabel[115] und Kolonovits sind der Judikatur kritisch entgegen getreten; folgt man Berka/Binder/Kneihs sind auch auf der Ebene des Eingriffs in die Religionsfreiheit Dritter Fragen angebracht, weil die Aufführung eines Films, vor allem in Kinos nicht „unentrinnbar“ ist. Nach heutiger Judikatur des VfGH müsste aber jedenfalls in Rechnung gestellt werden, dass Filmkunst ihrerseits grundrechtlich (durch Art 10 EMRK, aber auch durch Art 17a StGG) geschützt ist und die Behörde Abwägungen vorzunehmen hätte; unterlässt sie die Abwägung zweier konfligierender Grundrechte, so bedeutet das nach jüngerer Rsp und Dogmatik Willkür im objektiven Sinn.[116] Damals sah dies der EGMR anders. So war den Behörden, laut EGMR, nicht entgegenzutreten, welche die Gefühle der (Tiroler) Bevölkerung als potenziell verletzt sahen und daher die Beschlagnahme verfügten. Nicht unähnlich judizierte der EGMR auch in einem britischen Fall.[117]
Im Kontext mit der Kunstfreiheit scheint es auch von Bedeutung, inwieweit Kunst im öffentlichen Raum zu einer Situation der „Unentrinnbarkeit“ führt und derartige Darbietungen, Bilder oder Texte überhaupt in die Rechtssphäre Dritter eingreifen können. Diese Konfliktlage wurde im Fall der Entfernung des Gedichts „Avenidas“ des Schweizer Lyrikers Eugen Gomringer[118] von der Fassade einer deutschen, höheren berufsbildenden Schule virulent. Die Entscheidung der Entfernung wurde von (autonomen) Hochschulorganen getroffen, weil dieses Gedicht, so die Hochschul-Leitung, das moderne Frauenbild, zumindest nach Ansicht mehrerer Besucherinnen sowie Angehöriger des Lehrkörpers der auf soziale Berufe spezialisierten Schule, verzerrte. Der Urheber protestierte letztlich machtlos gegen das Auslöschen seines preisgekrönten Poems und erhielt zahlreiche Solidaritätsadressen, darunter auch eine der österreichischen Literatur-Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek. Der Fall wurde nicht vom EGMR judiziert. Die Vorgangsweise der deutschen Hochschulorgane weckte dennoch Zweifel und Bedenken im Lichte der Kunstfreiheit.[119]
Dynamische Auslegung politischer Grundrechte
Anhand der Auslegung des politischen Grundrechts auf freie Wahlen zu gesetzgebenden Körperschaften kann, wie schon erwähnt wurde, gezeigt werden, dass der EGMR zwar grundsätzlich an die Rechtsordnung der Vertragsstaaten anknüpft und diesen keineswegs vorschreibt, unter dem Titel der Antidiskriminierung das Wahlrecht auch auf Nicht-Staatsangehörige zu erweitern. In diesem Punkt ist zweifellos ein restraint im Verhältnis zum nationalen Staatsbürgervorbehalt, wie er in Österreich verankert ist erkennbar. Gleichwohl hat der EGMR sowohl die Reichweite des Grundrechts schrittweise ausgebaut als auch die Kontrolldichte verschärft, was sich vor allem im Kontext mit den Wahlausschliessungsgründen zeigt.
Mit dem EMRK-Beitritt, der 1958 bereits mitsamt des 1. ZP EMRK erfolgte, fand nur ein demokratisch-politisches Grundrecht Eingang in die österreichische Verfassung, welches sich wie kein anderes zu einer Art „Zeitbombe“ entwickeln sollte. Zunächst war es bereits Ergebnis einer dynamischen Interpretation in sinnvoller Umdeutung der Formulierung, dass der EGMR eine Staatenverpflichtung in ein subjektives Recht uminterpretierte, ein Parlament zu wählen oder dorthin gewählt zu werden. Das einzige, genuin politische Grundrecht der EMRK ist das in Art 3 1. ZP EMRK verankerte freie Wahlrecht zu den gesetzgebenden Körperschaften.[120] In den letzten Jahren führte es in Österreich zu einer tiefgreifenden Veränderung der Wahlausschliessungsgründe. Obwohl der EGMR anders als der österreichische VfGH keine kassatorische Kompetenz gegenüber generellen Normen hat und auch im Fall von Verwaltungsakten nur deren Rechtswidrigkeit feststellen kann, schlug seine Judikatur in den zunächst das UK betreffenden Fällen Hirst (2005)[121] und sodann im Fall Frodl (2010)[122] wie eine Bombe ein, deren Zeitzünder allerdings 45 bzw 50 Jahre bis zur Auslösung benötigte. Im demokratisch-politischen Kontext kann von dynamischer Auslegung in der Judikatur des EGMR bis hin zur justiziellen („richterlichen“) Rechtsfortbildung gesprochen werden. Eine wörtlich als Staatenverpflichtung formulierte Regelung wurde, angesichts ihrer Einbettung in das Zusatzprotokoll („weitere Rechte [...]“) als subjektives Recht zu wählen und gewählt zu werden interpretiert. In weiterer Folge implementierte der EGMR weitgehende Garantien für den modus electorandi, die zu wählenden parlamentarischen Organe und den Kreis der Wähler. Schlussendlich riss die Rsp des EGMR die als sicher geltende Ausschlussregelung des Art 26 Abs 5 B-VG aus der Verankerung und mit ihr die einfachgesetzliche Ausgestaltung.
Erforderlichkeitsprüfung und Margin of Appreciation
Allgemeines
Grundsätzlich gibt es zwei positivrechtliche Anhaltspunkte in der Konvention, um einerseits festzuhalten, dass die Aufgabe der Umsetzung und Wahrung der Konventionsrechte primär im Zuständigkeits- und Aufgabenbereich der Vertragsstaaten liegt (so Art 1 EMRK), andererseits aber dem EGMR die Aufgabe zukommt, im Rahmen der materiellen Vorbehalte (Art 8 Abs 2 EMRK und folgende) die Erforderlichkeit/Notwendigkeit eines Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft zu überprüfen. Andererseits hat der EGMR stets unter Berufung auf Art 3 der Satzung des Europarates betont, dass die Vertragsstaaten sich an die „rule of law“ halten müssen, die vor allem (aber nicht nur) in Art 6 EMRK zum Ausdruck kommt. Daher kann auch der demokratisch legitimierte Gesetzgeber die Konvention verletzen, wenn er in ein laufendes zivilrechtliches Verfahren eingreift oder dieses mit einem Spezialgesetz ausser Kraft setzt.[123] Aus dieser Dichotomie ergibt sich eine Einfallspforte für Wertungen einerseits und für eine „Variation der Kontrolldichte“ durch den EGMR andererseits.
Wie zu zeigen ist, gibt es aber auch weitere Vorgaben in der Konvention selbst, die sich auf Kontrollmassstab und -dichte auswirken. Dazu zählt die Vorgabe im Eigentumsgrundrecht (in Art 1 1. ZP Abs 2 EMRK, dh in jenem ZP, das die Schweiz nicht ratifiziert hat[124], das aber für Österreich, das Fürstentum Liechtenstein[125] und die BRD Wirksamkeit entfaltet), dass die Vorgaben der Verfolgung fiskalischer Ziele grundsätzlich gewahrt bleiben und daher der Spielraum der Vertragsstaaten in diesem Bereich gross ist; Grenzen setzen den Vertragsstaaten aber neben der Verhältnismässigkeits- und Erforderlichkeitsprüfung einerseits das Diskriminierungsverbot (Art 14 EMRK iVm Art 1 1. ZP EMRK) und andererseits das Verbot enteignungsgleicher fiskalischer Massnahmen.
In seiner Case-law-Rsp[126] hat der EGMR auch Vorkehrungen dagegen getroffen, dass ex post durch den Gesetzgeber in Urteile oder Schiedssprüche eingegriffen wird, mit denen strittige Entschädigungsfragen gelöst werden.[127] Auffällig ist aber die grundsätzliche Zurückhaltung gegenüber grundlegenden Änderungen der Eigentumsordnung nach dem Umbruch in Mittel- und Osteuropa.[128] Hier macht es sich der EGMR womöglich zu leicht, indem der Gerichtshof es ablehnt, vergangenes Unrecht (dh vor dem Inkrafttreten der Konvention nach Ratifikation durch die Vertragsstaaten am 4.11.1950 begangene Enteignungen und Vertreibungen) aufzuarbeiten, denn es geht ja actualiter um die Wiedergutmachung, nicht um die Perpetuierung eines offenkundig rechtswidrigen Zustands.[129]
Variable nationale Spielräume
Übersicht
Im Folgenden kann schon aus Platzgründen nicht nach dem Muster der gross angelegten, systematischen Darstellungen eine Tour d’Horizon durch sämtliche Grundrechtsbereiche erfolgen. Daher nimmt der Autor nur drei massgebliche Felder in den Fokus der Betrachtung und behandelt im Folgenden exemplarisch die Rsp des EGMR in Sachen Privatheitsrechte (vor allem Namensrecht, höchstpersönliche Rechte) im Lichte des Art 8 EMRK, einige vertiefte Fragen der Erforderlichkeits- und Notwendigkeitsprüfung in Sachen Meinungsfreiheit (die oben im Kontext mit den Auslegungsparadigmata bereits angesprochen wurde) und die ebenfalls kursorisch schon angesprochenen Aspekte des Eigentumsschutzes in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot.
- Privatheit und Namensrecht
In manchen Fällen, die dem Schutzbereich des Art 8 EMRK sub titulo „Privatheit“ oder „Schutz des Privatlebens“ (privacy rights) unterliegen, ist der Spielraum des Gesetzgebers nach der EGMR-Rsp eher weit. Das betrifft vor allem Rechtsbereiche mit ausgeprägten regionalen oder nationalen Abweichungen oder Eigenheiten. In ihrer Analyse der Judikatur meinen Grabenwarter/Pabel, dass hier einzelne Fallgruppen vorliegen, die einen unterschiedlichen Beurteilungsspielraum (margin of appreciation) erkennen lassen.[130] In ähnlicher Weise stuft eine aktuelle Studie zur Kontrolldichte diese „Variation“ des Spielraums durch den EGMR ein.[131] In den Worten des EGMR und seiner kundigen Analysten findet sich zwar die Auseinandersetzung mit der Vertretbarkeits- oder Evidenzprüfung nicht. Man kann aber dennoch diese Begriffe zweckmässigerweise ins Spiel bringen und zB im Kontext mit der staatlichen Hoheit, Namen, gewissen Einschränkungen des Sexuallebens oder sonstigen höchst privaten Aspekten von einer Grob- oder Exzesskontrolle seitens des EGMR sprechen. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt man, wenn im Rahmen der Verhältnismässigkeitsprüfung dem Staat grundsätzlich ein weiter Gestaltungsspielraum eingeräumt wird und dieser öffentliche Interessen wie zB die Bewahrung einer gewissen sprachlich-nationalen Identität der Namen verfolgt[132], ohne dabei zu exzedieren.
Das gilt insbesondere bei Fragen des Namensrechts, da dieses in den Mitgliedstaaten stark voneinander abweicht und es keinen einheitlichen Regelungsstandard gibt. Nicht jede Verweigerung eines Eltern-Wunsches, die in die Privatheitsrechte eingreift, ist bereits eine Grundrechtsverletzung in Namens- und Personenstandsangelegenheiten. Nur wenn die Behörden in sich widersprüchliche und nicht stringente Begründungen vorschieben, um Eltern-, Partner- oder Ehegatten-Wünsche abschlägig zu behandeln, greift Strassburg im Beschwerdefall ein.
Der EuGH anerkannte als legitimes Ziel (Schutz der öffentlichen Ordnung sowie der Rechte Dritter) die Vermeidung von „Namensketten“; der EGMR hat hier eine vergleichbare Linie in Fragen der Namensänderung mit Bezug auf den Nach- oder Familiennamen. Sofern die Abweisung eines Antrags auf Namensänderung eine gesetzliche Grundlage hat und die Behörde diese nicht inadäquat oder fehlerhaft anwendet, sieht der EGMR keinen Grund, dem Mitgliedstaat (in diesem Fall der BRD) entgegenzutreten.[133]
- Sachliche Begründetheit von Restriktionen
Was Österreich betrifft, gibt es in diesem Kontext einige Fälle, die mit der vom EGMR aufgezeigten Problematik zusammen hängen, denen aber hier nicht nachgegangen werden kann. Verglichen mit anderen Staaten übt im Namensrecht und Personenstandswesen die Republik Österreich mit Ausnahme der seit April 1919 verbotenen Adelstitel ein eher „liberales“ Regime aus. Wenn beispielsweise ein Partner einen Doppelnamen hat und eine zweite Ehe eingeht, kann der neue Partner bereits einen Doppelnamen haben. Die Anfügung der ehemaligen Herkunftsbezeichnung zum Stammnamen war ein probates Mittel der Umgehung der republikanischen Verbannung des Adels. Der Anreiz zur Namensakquisition war daher gerade in der „Titel- und Hofratsrepublik“ Österreich[134] recht gross.
Zum norwegischen und isländischen Namensrecht ist eine differenzierende Sichtweise zu pflegen, weil auch hier die Entwicklung im Fluss ist. So können Isländerinnen und Isländer inzwischen auch den Namen der Mutter oder auch die Namen beider Eltern wählen und daran -son/-dottir heften[135]. Norwegen hatte von vornherein keine solche verpflichtende Namensregelung, wenngleich auch dort der Schutz nationaler Identität in vielen Aspekten (zB in der zweifachen Schreibweise des Staatsnamens des Königreichs) eine Rolle spielt und auch der Schutz von autochthonen Minderheiten ein öffentliches Interesse generiert.
Die Berücksichtigung der Tradition und Sprache eines Staates sowie der „identitätstiftenden Wirkung des Namens“ durch den EGMR ist demnach berechtigt,[136] hier darf aber die „Bewahrung“ des Erbes nicht zu weit gehen; im Fall Johannsen/FIN befand der EGMR, dass der Vorname Axl[137] sehr wohl mit finnischen Traditionen vereinbar sei[138]. Finnland ist nicht nur für seine Technikaffinität, die ausdauernden Sportler, die innovativen Universitäten, Sibelius und die Leningrad Cowboys bekannt, sondern auch für seine Heavy Metal- und Bikerszene. Folgt man der Rsp des EGMR müssen aber nicht alle Finnen Matti, Parvi oder Aari im Vornamen heissen. Der Staat hat regelrecht in Anwendung der identitätsstiftenden Vorschriften des Namensrechts extreme Auswüchse zu korrigieren oder hintanzuhalten. Solange aber rationale Gründe für die Regelung bestehen und diese massvoll angewendet wird, prüft der EGMR nur im Wege einer Vertretbarkeitskontrolle den Eingriff. Die Zielverfolgung der Identitätsstiftung bzw –förderung als ein integratives regionales Merkmal sieht der EGMR grundsätzlich als legitim an, ohne sich auf eine genauere Erforderlichkeitsprüfung einzulassen.
Die französische Republik ist jenes Land, in dem Edith Piaf „la vie en rose“ sang; französische Eltern geben traditionell ihren Kindern gerne blühende Namen. Deshalb kam es zu einem vom EGMR judizierten Konfliktfall, als Eltern wünschten, dass ihre Tochter den Namen „Fleur de Marie“ tragen sollte. Immerhin kam ihnen die Behörde so weit entgegen, dass das Mädchen Fleur Marie heissen durfte.[139] Selbst hier wäre eine restriktivere Vorgangsweise noch vertretbar gewesen, weil die Blume ja eine Gattungsbezeichnung der Biologie ist, nach dem Wunsch der Eltern aber durch den gängigen Vornamen Marie präzisiert worden wäre, was letztlich auch bei der von der Behörde entschiedenen Namenswahl der Fall war.[140] Dem weiter gehenden Elternwunsch, der auch das „de“ zwischen den Vornamen betraf, konnte die zuständige Standesbehörde hingegen nicht folgen. Die Behörde trug nur „Fleur Marie“ in die Staatsangehörigkeits- und Geburtsurkunden ein, was letztlich die Beschwerde in Strassburg bewirkte, der aber der Erfolg versagt blieb.
Der EGMR gab dem Antrag nicht statt und sah weder den „domestic margin of appreciation“ als überschritten an, noch konnte dieser einen schweren Rechtsanwendungs- oder Vollziehungsfehler orten. Problematisch ist es im Lichte des Art 8 EMRK allerdings, wenn ein Staat die Namensrechte einer Minderheit nicht berücksichtigt, hier ist nur eine begrenzte Anpassungspflicht und Vereinheitlichung zulässig, wie der EGMR in türkisch-kurdischen[141] und ukrainisch-russischen Fällen[142] ausgesprochen hat.
- EGMR-Judikatur zum Privatleben von Sportlern (Antidoping)
Im Kontext mit der Auslegungspraxis des EGMR wurde bereits auf einen recht aktuellen Fall im sportrechtlichen Kontext[143] eingegangen. Dieser betraf die Überprüfung von Wettkampf-Athleten ausserhalb bzw vor den eigentlichen Bewerben im Sinne einer begleitenden Dopingkontrolle.[144] Sowohl das IOC und die WADA als auch die nationalen Anti-Dopingagenturen (zB die NADA Austria bzw das durch einheitliche Verweise und „links“ agierende ÖOC) haben das Recht, zu vorab angekündigten Zeiten auch “pre-competition-tests“ in der intermittierenden Aufbau- und Trainingsphase durchzuführen und die Regeln dazu festzulegen. Sie sind somit als rechtsetzende Organe anzusehen, die Online-Publikationen des WADA Codes reicht aus, dass der Eingriff „gesetzlich vorgesehen“ ist. Auch sachlich sind derartige Regeln zur Zielerreichung tauglich und erforderlich und auch verhältnismässig iSd Art 8 EMRK. Der Grund für die Notwendigkeit der Zwischentests liegt darin, dass es auch Dopingmethoden oder –mittel gibt (zB Verabreichung von angereichertem Eigenblut; EPO), die nur mehr schwer oder gar nicht nachweisbar sind, wenn sie „rechtzeitig“ abgesetzt werden; damit die betroffenen Sportler auch verfügbar sind, müssen sie genau bekannt geben, wann sie wo trainieren und wann sich ein Zeitfenster (“slot“) eröffnet, in dem eine Dopingprobe unter abgeschiedenen Verhältnissen (zB im Hotel) möglich ist. Da diese Regeln den Aufenthalt und die näheren Umstände des Privatlebens tangieren (sogenannte “where-about-rules“), greifen sie auch zweifellos in Art 8 EMRK ein und zwar sowohl was die höchstpersönliche Privatsphäre als auch was das (bei Spitzensportlern meist trainingsbedingt ohnehin nicht ungetrübte) Privat- und Familienleben betrifft. Wie sich herausgestellt hat, listen nationale Sportverbände aber auch Athletinnen und Athleten, die sich jenseits von natürlichen Altersgrenzen immer noch betätigen, ohne dass es aber um den Kern des Wettkampf- und Leistungssports ginge. So beklagte der französische Verband FNASS, dass sogar eine über 60jährige Fahrrad-Athletin/Rennradfahrerin ihre “where-abouts“ bekannt geben musste; gleichwohl erkannte der EGMR – durchaus im Sinn eines restraints und einer blossen Vertretbarkeitskontrolle der Ziel-Mittel-Relation, dass die angeordneten Massnahmen zur Zielverfolgung in einer demokratischen Gesellschaft notwendig und in einer generellen Betrachtung auch hiefür tauglich seien. Der Eingriff beruhe auf einem „Gesetz“, da der WADA-Code allgemein zugänglich und von einer dazu berufenen Autorität erlassen worden sei. Auch die Verhältnismässigkeit der von den Agenturen angeordneten Massnahme (im engeren Sinn) sei gegeben, da die Athleten sich auf eine gewisse Tageszeit festlegen können und sich nicht in der Öffentlichkeit exponieren und einem Blut- oder Harntest aussetzen müssten. Daher betrachtete der EGMR die “where-about-rules“ als vereinbar mit dem in Art 8 EMRK verankerten Recht auf Privatheit.[145]
In einzelnen Punkten ist das EGMR-Urteil, das nicht vor die Grosse Kammer (GK) gezogen wurde und somit nach Fristablauf im Sommer 2018 endgültig und somit auch rechtskräftig wurde, zwar kritikwürdig, nicht aber was die hier angewendete Kontrolldichte betrifft. Umstritten ist vielmehr ein anderer Aspekt, nämlich die vom EGMR benannten öffentlichen Interessen. Im Schrifttum ist es nämlich umstritten, auf welche Ziele sich der Staat und die zT autonomen Agenturen stützen können; vielfach, so auch im betreffenden Urteil, wird der „Schutz der Gesundheit“ genannt, allerdings wenden Kritiker ein, dass dies deshalb nicht tragfähig sei, weil Spitzensport auch ohne Doping gesundheitsschädlich sei; aber weitaus weniger umstritten, ja in mancher Hinsicht evident sind die vom EGMR zumindest auch angesprochenen Aspekte der Fairness[146] und die in der Judikatur des EuGH (hier im Lichte der Dienstleistungsfreiheit) angesprochene Vorbildwirkung vom Spitzensportlern, die besonders auf junge Menschen Einfluss haben.[147]
- Fristenlösung und Sterbehilfe
Zu den zentralen Fragen des Menschenrechtsschutzes zählen jene, die Beginn und Ende des Lebens im Lichte des Art 2 EMRK betreffen. Dass Leben von den taxativ in Art 2 EMRK genannten Ausnahmen abgesehen absolut schützenswert ist, bedarf keiner Begründung; doch die Fragen, wann Leben beginnt und unter welchen Voraussetzungen Unterstützung bei der Beendigung zulässig ist, sind umstritten.[148] Hinzuweisen ist darauf, dass der EGMR[149] im Bereich der Fristenlösung bzw der sogenannten “trimester rule“ (Straflosigkeit der Abtreibung im ersten Drittel der Schwangerschaft, dh binnen 11 oder 12 Wochen, die der U.S. Supreme Court seit dem Urteil Roe v. Wade für zulässig erachtet) davon ausgeht, es gäbe hier weder gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse (über die Lebensentstehung etc) und allgemein anerkannte Wertvorstellungen. Daher orientierte sich der EGMR in einem judicial self restraint auch nicht an dem weitgehend einheitlichen europäischen Regelungsstandard. Hier wird einer transjudiziellen Wirkung einer in anderen Vertragsstaaten als verfassungskonform erkannten Rechtslage eine Absage erteilt, Irland war demnach nicht gehalten, dem (kontinental-)europäischen, britischen oder amerikanischen Vorbild zu folgen.
In Europa sind es die Republiken Irland und Polen, die unter dem Einfluss der katholischen Kirche Abtreibungen weitestgehend restringieren. Gleichwohl hat der EuGH erkannt, dass die Republik Irland im Rahmen des ihr rechtspolitisch eingeräumten Spielraums bleibt, wenn sie anders als die meisten europäischen Staaten und die USA (als zweitgrössten „irischen“ Staat) die Abtreibung binnen des ersten Schwangerschaftsdrittels ohne Indikation bzw die Fristenlösung (nach österreichischer Terminologie) nicht erlauben.[150] Hier wird einmal mehr erkennbar, dass in Fragen der Religion, der Moral und regionalen Sitte der EGMR Abstand wahrt und die Tradition der Vertragsstaaten achtet. Dennoch erscheint die Judikatur kritikwürdig, weil sie einen restraint erkennen lässt, der sich nicht auf gute Gründe stützen kann. Wenn der EGMR anführt, dass der Gerichtshof nicht berufen ist, Rechtsvereinheitlichung herzustellen, dann mag dies in Details der Ausgestaltung nationaler Rechtsordnungen zutreffen. Zweifellos kann auch ein Vertragsstaat das Recht auf Leben Ungeborener hoch gewichten, nur stellt sich eben die Frage, ob dies im Falle der Strafbarkeit einer Abtreibung (auch) im ersten Drittel der Schwangerschaft, ein taugliches Mittel darstellt. Denn angesichts der Möglichkeit des Grenzübertritts in benachbarte Länder oder auf internationales Gebiet (Meer), fragt es sich, ob der EGMR hier nicht einen Fingerzeig hätte geben müssen. Der restriktiven irischen Regelung konnten Frauen leicht entkommen, sie mussten für den Eingriff nur die Grenze überschreiten. Zeitweise kreuzten sogar Klinikschiffe mit mobilen gynäkologisch-chirurgischen Klinken vor Irland und die dort stationierten Ärztinnen führten den Eingriff in internationalen Gewässern durch. Zwar stiessen diese Abtreibungsschiffe auch auf Kritik, aber sie waren nur die Folge der nationalen Regelung, die zweifellos in Art 8 EMRK eingriff und mit der Berufung auf Art 2 (Recht auf Leben) allein nicht zu rechtfertigen war. Dass die Selbstbestimmung irischer (und polnischer) Frauen einen anderen Stellenwert haben soll als im restlichen Europa und in den USA kann mit Fug nicht behauptet werden. Allerdings gibt es auch Bestrebungen in den USA, von Seiten konservativer Juristinnen und Juristen, die allmählich im US Supreme Court ein Übergewicht einnehmen, schrittweise die bisher bundesweit eingelebte trimester rule wieder rückgängig zu machen oder einzuschränken.
Der EGMR setzte sich allerdings im Fall A, B, und C/IRL auch mit den europäischen Standards auseinander. Wörtlich führt er aus: „In the present case, and contrary to the Government’s submission, the Court considers that there is indeed a consensus amongst a substantial majority of the Contracting States of the Council of Europe towards allowing abortion on broader grounds than accorded under Irish law.“ Er merkt auch an, dass A und B in dreissig Staaten eine Abtreibung durchführen hätten können und geht auch darauf ein, dass nur wenige Staaten strengere Abtreibungsregeln als Irland haben. Weiter heisst es: “Given this consensus amongst a substantial majority of the Contracting States, it is not necessary to look further to international trends and views which the first two applicants and certain of the third parties argued also leant in favour of broader access to abortion.”[151]
Das schränkt allerdings laut EGMR nicht den Ermessensspielraum des Staates, hier der Republik Irland, ein, weil die hier bedeutsame Frage, wann das Recht auf Leben nach Art 2 EMRK beginnt, im Ermessensspielraum der Staaten liegt. Ausdrücklich konstatiert der EGMR, dass es keinen europaweiten Konsens über die rechtliche und wissenschaftliche Definition des Beginns des Lebens gibt.[152] Im Rückzug auf die Hinweise auf naturwissenschaftliche Divergenzen kann ein restraint des EGMR erkannt werden. Jedenfalls aber erscheint es dem EGMR nicht als „willkürlich“, wenn ein Vertragsstaat strengere, dh aber auch für die Selbstbestimmtheit der Frauen einschränkendere Regeln vorsieht; ob der Hinweis auf die Möglichkeit, in dreissig anderen Staaten einen Eingriff durchführen zu können, hier nicht womöglich von der eigentlichen Problematik ablenkte, bleibe aber dahin gestellt. Ähnliche Fragen stellen sich derzeit dem VfGH, da sich beim Verbot der Beihilfe zur Selbsttötung und dem Verbot der Tötung auf Verlangen („aktive Sterbehilfe“) eine national unterschiedliche Rechtslage eröffnet und daher auch durch Ausreise eine legale Möglichkeit besteht, selbstbestimmt zu gehen.
Nicht unähnlich der laut EGMR ungeklärten Frage, wann Leben beginnt, ist somit auch die Beurteilung des gewillkürten Endes, wobei hier die Verfechter der Selbstbestimmung mit jenen im Konflikt stehen, die sowohl an den hippokratischen Eid erinnern als auch das Sterben an der Hand eines Begleiters als grundrechtskonformes Modell sehen und dem durch einen Dritten beschleunigten Ableben vorziehen. In dieser Hinsicht besteht anders als in den Niederlanden und in der Schweiz in Österreich de lege lata noch die nicht ausjudizierte Frage, inwieweit die Strafbarkeit wegen Tötens auf Verlangen (Beihilfe zum Suizid; Sterbehilfe) in Abwägung zu Rechten der Privatheit und der Selbstbestimmung verfassungswidrig sein könnte. Die rechtspolitische Debatte darüber ist entbrannt und sie ist so kontrovers, dass sich hier schwerlich eine einheitliche Richtung erkennen liesse. Nach einer mündlichen Verhandlung am 24. September 2020 vertagte der VfGH die Beratungen zu dieser grundlegenden Frage über die Herbstsession hinaus,[153] weshalb voraussichtlich erst 2021 eine Entscheidung getroffen sein wird. Zumindest aber wird es noch dauern, bis ein, allenfalls im Dezember 2020 gefälltes, Erkenntnis zugestellt sein und der interessierten Öffentlichkeit vorliegen wird.
- Aspekte der Religionsfreiheit
Das Thema wäre in einer adäquaten, dh alle Aspekte der Judikatur beachtenden, analytischen und systematischen Behandlung geradezu ausufernd. Sowohl auf nationaler Ebene als auch vor dem EGMR und dem EuGH haben Fragen des Art 9 EMRK und der Religionsausübung in den letzten drei Jahrzehnten an Bedeutung zugenommen. Hier soll nur darauf hingewiesen werden, dass der EGMR sehr wohl Spielräume nach nationalen und regionalen Gesichtspunkten zuerkennt; dass aber eine Diskriminierung keineswegs geduldet wird, wenn Angehörige von Religions- oder Bekenntnisgemeinschaften unterschiedlich behandelt werden. In einem auf Österreich bezogenen Fall erkannte der EGMR eine Verletzung der Art 9 iVm Art 14 EMRK im Kontext mit der Zivildienstpflicht. Im Gegensatz zu Religionsdienern anerkannter Religionen musste ein Diakon der Zeugen Jehovas den Dienst antreten, der EGMR ortete eine Verletzung durch die Diskriminierung im Genuss des Konventionsrechts der Religionsfreiheit.[154]
Keine Abwägung zu den regionalen Gegebenheiten der Religionsausübung und des Schutzes von Minderheitsreligionen übte hingegen der EuGH im Österreich betreffenden Fall Cresco Investigation GmbH[155], deren Mitarbeiter den Karfreitag als Feiertag wählen wollte, obwohl der Arbeitnehmer weder der evangelischen bzw methodistischen noch der altkatholischen Religionsgemeinschaft angehörte. Die Verankerung im Feiertagsruhegesetz[156] war Ergebnis eines gesetzgeberischen Kompromisses der 1950er-Jahre.[157] Die sachlich (durch Fragen des Kultus) gerechtfertigte Privilegierung von Arbeitnehmern einer Religionsgemeinschaft führt, wie der EuGH verkannte, nicht vice versa zu einer Diskriminierung der anderen. Vielmehr steht es dem Gesetzgeber frei, schrittweise Wünschen der Religionsgemeinschaften (so auch der islamischen und alevitischen[158], die damals zahlenmässig noch keine relevante Rolle spielten, sowie der orthodoxen) entgegen zu kommen. Diese Judikatur führte ihrerseits zu einer gesetzgeberischen Diskriminierung. Denn nach einer von der österreichischen Bundesregierung höchst intransparent geführten „Verhandlung“ mit den Leitungsorganen der evangelischen Kirche, der rund 4% der Österreicherinnen und Österreicher angehören, kam ein „Wahl-Feiertag“ ohne Rechtsanspruch heraus,[159] was eine Verletzung der Angehörigen der evangelischen Kirche (AB und HB), der methodistischen und der altkatholischen Religionsgemeinschaft in ihrem Recht auf nicht-diskriminierte Religionsausübung darstellt.[160]
Anhängig ist derzeit beim österreichischen VfGH die bereits in Frankreich, der Türkei und beim EGMR judizierte Problematik des Tragens von religiösen Symbolen in der Öffentlichkeit und insbesondere in der allgemein zugänglichen Schule (dh den öffentlichen Schulen und allenfalls auch privaten Schulen mit Öffentlichkeitsrecht). Eine Novelle zum Schulunterrichtsgesetz (§ 43a SchUG) aus dem Jahr 2019 wandte sich gegen die demonstrative Verwendung von (vornehmlich islamischen) Verhüllungen wie dem Hijab. Seither ist es Volksschülerinnen und Volksschülern untersagt, „weltanschaulich oder religiös geprägte Bekleidung zu tragen, mit der eine Verhüllung des Hauptes verbunden ist“. Gegen diese Regelung traten zwei Kinder und deren Eltern beim VfGH auf, der allerding die Entscheidung darüber vorerst vertagte.
Die Homepage des VfGH gibt Aufschlüsse über die näheren Umstände des Falles. Die Kinder werden religiös im Sinne der sunnitischen bzw schiitischen Rechtsschule des Islam erzogen. Die Antragsteller bezweifeln die Verfassungskonformität jener Vorschrift, die letztlich auf das islamische Kopftuch ziele. Sie monieren einen unverhältnismässigen Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit bzw auf religiöse Kindererziehung (Art 9 EMRK; Art 2 1. ZP EMRK in der Ausprägung als Elternrecht). Das Tragen eines Kopftuchs sei nämlich Teil der Glaubenspraxis im Islam. Zudem sei der Gleichheitsgrundsatz verletzt, weil andere religiös geprägte Bekleidung, wie die jüdische Kippa oder die Patka der Sikhs von diesem Verbot nicht erfasst sei, so die Information des VfGH über den Fall, zu dem hier nicht Stellung genommen wird, solange dieser anhängig ist.
- Aspekte des Eigentumsschutzes
Als einer der Fälle, in dem der EGMR eine „Exzesskontrolle“ vorgenommen hat,[161] ist der griechische Raffineriefall anzusehen.[162] Hier ging es darum, dass einer Raffinerie zunächst Gründe zugesagt wurden, die im Wege der Enteignung durch den Staat schrittweise bereitgestellt wurden. Tatsächlich kam es zu einer Enteignungswelle, die aber nach Protesten wieder gestoppt und rückgängig gemacht wurde. Nun war die Raffinerie die geschädigte Partei und so wurde dieser im Wege eines Schiedsspruchs eine Entschädigung zugesprochen. Nun griff aber der Gesetzgeber ein und machte die Abmachungen des Schiedsspruchs wieder rückgängig. Mit Recht sah hier der EGMR den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers als überschritten an. Auch aus verfassungsrechtlicher Sicht lag hier, wie am Rande zu bemerken ist, einerseits eine Anlassgesetzgebung und andererseits ein unzulässiger Eingriff der Legislative in die Kompetenzen der freiwilligen Gerichtsbarkeit (sog “encroachment“) vor.[163] In differenzierter Weise erfolgte die spätere Rsp in den Fällen Anheuser-Busch/POR und Lecarpentier/FRA, auf die sich EGMR und EuGH bis heute berufen.[164]
- Steuerrecht/Sozialleistungen
Angesichts des Art 1 Abs 2 des 1. ZP EMRK (nicht ratifiziert von der Schweiz!) besteht schon von Vertrags wegen ein weiter Spielraum der Vertragsstaaten für fiskalische Massnahmen insbesondere die Steuergesetzgebung; doch ist es wichtig zu betonen, dass hier vor allem der Diskriminierungsschutz des Art 14 EMRK greifen kann, der bekanntlich akzessorisch, dh im Kontext mit einem Konventionsrecht wirkt; mittlerweile ist zwar auch Gleichheit auf Ebene der Konvention geschützt, doch gerade bei der Frage, ob eine Diskriminierung durch eine Benachteiligung bei Transferleistungen vorliegt, bedient sich der EGMR nach wie vor des Art 14 EMRK. Dennoch können daher auch rechtliche oder faktische Unterschiede eine Schlechterstellung rechtfertigen, zB können subsidiär Schutzberechtigte niedrigere Leistungen erhalten als Asylberechtigte. Auch der österreichische VfGH prüft derartige Massnahmen unter dem Gesichtspunkt des Art I RassDiskrBVG[165], des Gleichheitssatzes (Gleichheit von ausländischen Staatsangehörigen untereinander), aber auch des Eigentumsschutzes iVm dem Diskriminierungsverbot. Es ist daher fraglich, ob man hier generell von einem durch self restraint oder die Beschränkung auf eine blosse Vertretbarkeitskontrolle geminderten Standard sprechen kann. Umstritten ist, ob die von Österreich vorgesehene Massnahme der Staffelung von Familienbeihilfen (auf die ein Rechtsanspruch seitens der Steuerzahler nach dem EStG[166] und dem FlAG[167] besteht), nach dem Herkunftsland und dem dortigen Standard rechtens ist, schon die Kommission (der EU) hat signalisiert, dass sie diese Ungleichbehandlung nicht tolerieren wird und auch unter dem Gesichtspunkt der Diskriminierung in der Ausübung des Art 1 1. ZP EMRK könnten sich hier noch Probleme ergeben. Abgesehen davon schützen aber auch Art I RassDiskrBVG und Art 21 GRC die Gleichheit bei der Zuteilung von Transferleistungen, jedenfalls dort, wo ein rechtlich gesicherter Anspruch besteht; dies ergibt sich auch aus der Rsp zu Sozialhilfe, Mindestsicherung[168] oder Unterstützungsleistungen wie der Covid-19-Familienhilfe. Über die Frage der Judikatur über soziale Grundrechte sei auf eine vergleichende Studie verwiesen.[169]
Zusammenfassung und Thesen
Die EMRK wird am 4. November 2020 siebzig Jahre alt, was den Beschluss der Konvention (noch ohne Zusatzprotokolle) in Rom betrifft. Derzeit haben 47 Staaten die EMRK und die Zusatzprotokolle ratifiziert, wobei nicht alle Zusatzprotokolle in allen Vertragsstaaten gelten; schrittweise haben die Vertragsstaaten die Jurisdiktion des EGMR akzeptiert, oftmals erst nach einer längeren Beobachtungsphase. Transformation und innerstaatlicher Rang der EMRK variieren in den nationalen Rechtssystemen. Die Umsetzung der Urteile führt mitunter zu dynamischen Entwicklungen wie zB im Kontext mit der Ehe für alle in Österreich, bei welcher der VFGH 2018 über die EGMR-Rsp hinausging.
In über 63.000 Urteilen und sonstigen Erledigungen hat der EGMR seit der Neuordnung der rechtsprechenden Organe (Grosse Kammer/Kammern) eine gewaltige Leistung des menschenrechtlichen Monitoring auf europäischer Ebene vollbracht, die nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Besorgniserregend könnte allerdings die Entwicklung der seit dem 14. ZP EMRK vorgeschalteten Einzelrichterkompetenz angesehen werden, weil 2018/19 nur mehr unter 5% der Österreich betreffenden Beschwerden zugelassen wurden.
Vertretbarkeitskontrolle und Willkürverbot sind keine eingeführten Termini im Kontext mit der Rsp des EGMR. Nur selten werden diese von Analysten für Auswertungen der Kontrolldichte und der Ausführungen zum gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum gebraucht. Naturgemäss ist es weniger das Gericht selbst, das seine Judikatur erklärt, als die Grundrechtsdogmatik, welche hier um Analyse und Systematisierung bemüht ist. In Österreich steht objektive Willkür als Synonym für einen schweren Fehler der Vollziehung auf Ebene der Verwaltung oder eines Berufungsgerichts (VwG).
Der EGMR zeigt in seiner Judikatur ein bewegliches und variables System im Spektrum einer auf eine blosse Vertretbarkeitskontrolle beschränkten Überwachung (supervision and monitoring) und einem aktiven und dynamischen Vorantreiben einzelner Grundrechte und deren Schutzbereiche (zB im Wahlrecht) auf; Grundrechtseingriffe in absolut geschützte Rechtsgüter (Leben, Schutz vor Folter) werden auf Vollziehungsebene aufgegriffen und streng geprüft. Im Kontext mit diesen Rechtsgütern eröffnen unbestimmte und auslegungsbedürftige Rechtsvorschriften (zB zur Fristenlösung, zum Schutz ungeborenen Lebens, dem Verbot der Beihilfe zum Selbstmord, der „Strebehilfe“ und der Tötung auf Verlangen) einen gewissen Spielraum. Der EGMR übt hier in seiner Rsp Zurückhaltung gegenüber nationalen Regelungen. Dasselbe gilt im Kontext mit Wertvorstellungen und religiös-sittlichen Aspekten, die der EGMR häufig auch bei Abwägungsfragen berücksichtigt. Längere Zeit bestand auch ein erkennbarer restraint gegenüber nationalen namens- und familienrechtlichen Regelungen, da die Vertragsstaaten hier identitätsstiftende Ziele und nationale Traditionen verfolgen dürfen. Auch hier ist aber dem gesetzgeberischen Spielraum durch das akzessorische Diskriminierungsverbot eine Grenze gesetzt, dh die Untersagung einer Namenswahl durch nationale Behörden kann hier jenseits der Willkürgrenze liegen, wenn sie die Vorschriften unsachlich auslegt und zB „Axl“ als Vornamen eines finnischen Knaben verbietet. Hingegen ist es nicht willkürlich, wenn eine nationale Behörde dem Wunsch der Eltern bei der Namenswahl ohnehin weit entgegenkommt und lediglich in Details eingreift („Fleur Marie“ statt „Fleur de Marie“ für ein französisches Mädchen). Das Namens- und Personenstandsrecht, das vom EGMR bislang zurückhaltend judiziert wurde, hat in Österreich in der Rsp des VfGH indirekt (als eine Art „Katalysator“) im Wege der Normenkontrolle die Ehe für alle ermöglicht (was als ein Beispiel für nationalen activism gewertet werden könnte, aber nicht muss).
Das begriffliche Spektrum von Evidenzkontrolle, Grobprüfung und Feinprüfung rührt aus nationalen Analysen der Rsp her, wobei der dichotome Ausdruck „Grob- und Feinprüfungsgrundrechte“ in Österreich in einem anderen Kontext gebräuchlich ist. Der EGMR selbst umschreibt meist in anderen Worten die unterschiedlich angewandte Kontrolldichte und legt sich auf keine Generalisierung fest. Vielmehr variiert der EGMR die Kontrolldichte je nach Grundrecht und Themenbereich. Auch hier gilt: „The domestic margin of appreciation thus goes hand in hand with European supervision“. Wo der Rahmen im einzelnen endet, ist nur durch eine eingehendere Judikaturanalyse themenspezifisch festzumachen.
Selten reflektiert der EGMR selbst über die Kontrolldichte, die er zur Anwendung bringt. Der Gerichtshof lässt aber mitunter erkennen, dass eine nicht offensichtlich willkürliche oder unvernünftige Regelung (arbitrary/unreasonable) ebenso den Anschein der Konformität mit sich bringt, wie er auch Entscheidungen anderer internationaler Instanzen präsumtiv akzeptiert. In der Rechtsanwendung ist stets eine das Handeln deckende, gesetzliche Grundlage erforderlich, dabei kann es sich aber auch um allgemein zugängliche Verbandsregelung (zB Sportregeln der WADA oder des IOC) handeln.
Es ist eine Zweckmässigkeitsfrage der Begriffsbildung, ob dem EGMR eine grundrechteabhängige „Variation der Kontrolldichte“ zugesonnen werden kann. Tatsächlich – und das gibt dieser im Schrifttum entwickelten Formel Berechtigung – variiert die Kontrolldichte abhängig von den jeweils angewandten Grundrechten. Doch sie hängt auch und insbesondere von den materiellen Vorbehalten der EMRK, von der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht rechtfertigender Interessen, wie auch von den vom EGMR in unterschiedlicher Tiefe erforschten nationalen Gegebenheiten ab.
Die Konvention selbst gibt Anhaltspunkte für die Kontrolldichte: Art 1 EMRK weist die Aufrechterhaltung des Grundrechtsstandards den Vertragsstaaten zu; Art 8-12 Abs 2 EMRK verlangen die Notwendigkeits-/Erforderlichkeitsprüfung eines Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft; es finden sich darüber hinaus Hinweise auf die Verantwortung der Medien in Art 10 Abs 2 EMRK; die Bezugnahme auf den fiskalischen Gestaltungsbereich der Vertragsstaaten in Art 1 Abs 2 1. ZP EMRK ermöglicht weite nationale Spielräume, doch darf es auch hier zu keiner Diskriminierung kommen
Im Zuge der Verhältnismässigkeits- oder Adäquanzprüfung ist die Frage der Tauglichkeit und Erforderlichkeit des Eingriffs eine Einfallspforte für Wertungen und dementsprechend auch Indikator für Zurückhaltung (restraint) oder aktiver Gestaltung (activism). Der nationale Gesetzgeber kann den – je nach Grundrecht unterschiedlich weiten – Gestaltungsspielraum weit gehend ausschöpfen, darf aber öffentliche Interessen zur Zielverfolgung nicht bloss vorgeben. Nur selten wird eine Massnahme vom EGMR oder von österreichischen VfGH als völlig ungeeignet zur Zielerreichung apostrophiert. In der nationalen Judikatur erachtete etwa der VfGH eine Bedarfsprüfung für den Mietwagen- und Taxisektor („Gelegenheitsverkehr“), aber auch für Frächtergewerbe („Güterverkehr“) als untauglich zur Erreichung des Ziels der Verkehrssicherheit und des Umweltschutzes.
Im Kontext mit den politischen Grundrechten, vor allem dem freien Wahlrecht zu gesetzgebenden Körperschaften („Parlamenten“; dh für Österreich Wahl des Nationalrats, der Landtage und der EP-Mitglieder), kann von einem restraint oder einer blossen Willkürkontrolle keine Rede mehr sein. Schrittweise hat der EGMR die Staatenverpflichtung des Art 3 1. ZP EMRK dynamisch in ein politisches Grundrecht ausgebaut, das die Teilhabe an Parlaments-Wahlen (das Europäische Parlament mit einbegriffen) für sämtliche Staatsbürger der Vertragsstaaten bzw für EWR- und Unionsbürger (zB im Kontext mit dem EP in Enklaven) ermöglicht. Vor allem im Zusammenhang mit dem Ausschluss vom Wahlrecht hat der EGMR die Elle verfeinert und sowohl bei strafgerichtlichen Verurteilungen als auch bei der Erwachsenenbetreuung (Kuratel, Sachwalterschaft, „Entmündigung“) ein differenziertes nationales Regime eingefordert. In Österreich betraf dies die Ausschlussgründe beim aktiven Wahlrecht, die im B-VG und in der NRWO[170] angepasst werden mussten Die Rsp zu politischen Grundrechten ist dem Themenkreis judicial activism und Dynamisierung zuordenbar; dass eine Willkürkontrolle hier nicht ausreicht, liegt im Wesen und der Struktur politischer Teilhaberechte begründet.
Die Rücksichtnahme auf regionale Sitten, Gebräuche und religiöse Aspekte kann die Rechtfertigung für einschränkende Massnahmen verstärken, muss dies aber nicht tun. Der EGMR hat wiederholt exzessive und unverhältnismässige Eingriffe, aber auch Verstösse gegen Fairnessregeln im Straf- und Zivilverfahren durch Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit und dem Zuspruch einer gerechten Entschädigung (auch bei Staatenbeschwerden) sanktioniert. Eine Verfeinerung der Judikatur hat in den Jahren 2014—2020 vor allem beim Massstab der Prüfung von Fällen der Beweisverbote nach polizeilichem “entrapment“ (Einsatz von Lockspitzeln, agents provocateurs und verdeckte Ermittlungen) stattgefunden
Diskriminierungen in Konventionsrechten verfolgt der EGMR streng, obwohl die Staaten frei sind, ihr Sozialsystem nach den Gegebenheiten auszurichten. Bestehen aber Instrumente der sozialen Sicherheit, dürfen Einzelne oder bestimmte Gruppen nicht unsachlich davon ausgeschlossen werden. Problematisch kann es sein, Transferleistungen nach Herkunft von Nicht-Staatsangehörigen zu staffeln oder Differenzierungen nach dem fremdenrechtlichen Status vornehmen. Dasselbe gilt hinsichtlich der Rsp des EuGH in Sachen Diskriminierung von Arbeitnehmern durch die Feiertagsregelungen in einem Mitgliedstaat, wo der EuGH, anders als der EGMR, den nationalen Spielraum in einer Österreich betreffenden Entscheidung von Kultus- und Religionsfragen nicht hinreichend berücksichtigt hat.
Im Jahr 1963 konstatierte Felix Ermacora[171] in seinem bahnbrechenden Grundrechte-Handbuch[172]: „Durch jahrzehntelange Rechtsprechung ist der Gleichheitssatz zu einem Willkürverbot versteinert“. Dieser Befund kann, fast sechzig Jahre später, im Lichte der mannigfaltigen Rsp des EGMR und des österr VfGH nicht aufrecht erhalten werden.
[1] Der Tag der Unterzeichnung der EMRK in Rom war der 4. November 1950. Vgl dazu den instruktiven Artikel von Hilpold, Europas Menschenrechte werden 70 und werfen Licht und Schatten, Wiener Zeitung, 23. August 2020, 11.
[2] Die 23-jährige Verzögerung nach der Gründung des Europarats, an dem auch Frankreich beteiligt war, erklärte sich mit der Sorge der grande nation, die Algerienpolitik könnte Gegenstand einer Staatenbeschwerde und der Feststellung französischer Menschenrechtsverletzungen werden; siehe Mellech, Die Rezeption der EMRK sowie der Urteile des EGMR in der deutschen und französischen Rechtsprechung (2012) 3, 61.
[3] Mellech, Rezeption (2012) 81 ff (Frankreich). Zu Deutschland siehe aaO 170 ff.
[4] Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention7 (2021) § 1 Rz 8 f.
[5] So hat die EGMR-Rsp in Fragen der Überwindung der Rechtskraft die Auslegung des Bonner Grundgesetz beeinflusst; siehe EGMR 18.09.2007, Paeffgen GmbH/GER, Nr 25.379/04.
[6] Der österreichische VfGH beruft sich zB in seiner Judikatur zum NamensänderungsG (Diskriminierung bei der Eintragung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften) in VfSlg 19.623/2012 Rn 105 auf die Judikatur des EGMR. Hatte zunächst das EGMR-Urteil 24.06.2010, Schalk und Kopf/AUT, Nr 30.141/04, den Anspruch auf Achtung des Familienlebens durch gleichgeschlechtliche Partner begründet aber keine Ehe für alle als Folge der Konvention postuliert, so führte der VfGH gleichwohl aus, dass er in Fragen der Differenzierung nach dem Geschlecht oder der sexuellen Ausrichtung der EGMR-Rechtsprechung folge, die er somit national weiterentwickelte. Vgl auch VfSlg 17.659/2005 sowie EGMR 20.03.2008, P.B. and J.S./AUT, Nr 18.984/02, (Mitversicherung gleichgeschlechtlicher Partner); EGMR 24.7.2003, Karner/AUT, Nr 40.016/98,. Siehe auch VfSlg 20.225/2017 (gleichgeschlechtliche Ehe; Aufhebung der Wortfolge „verschiedenen Geschlechts“ im ABGB); vgl dazu Ruppe, Ehe für alle – Grundrechtejudikatur auf neuen Wegen? in GS Korinek (2018) 49. Zu Art 8 und 12 EMRK und Art 5 7. ZPEMRK im Kontext mit Familienleben, Ehe und den Rechten transsexueller Personen siehe EGMR 11.07.2002, Goodwin/UK, Nr 28.957/96, angeführt auch in ÖJZ 2003, 770; dazu Hengstschläger/Leeb, Grundrechte2 (2019) Rz 12/15.
[7] Insgesamt stehen die oben in der Vorfussnote zitierten EGMR-Urteile und die nationale Judikatur für Beispiele für judicial activism und „Wertewandel“, der den Gesetzgeber auch zu inhaltlichen Anpassungen verhält. Vermutlich hätten Kelsen und auch Frankfurter diese Entwicklung nicht unkritisch gesehen; siehe zur “restraint“-Neigung der beiden Wien-basierten Juristen und Verfassungsrichter (VfGH/US Supreme Court) zuletzt Olechowski, Hans Kelsen. Biographie eines Rechtswissenschaftlers (2018) 607. Zu Frankfurters Vita siehe Baker, Brandeis and Frankfurter. A Dual Biography (1984) 9ff.
[8] VfSlg 19.730/2012; vgl die umfangreiche dort zitierte EGMR-Rsp.
[9] Vgl zuletzt EGMR 27.10.2020, Reist/SUI, Nr 39.246/15; keine Verletzung des Art 5 Abs 1 EMRK durch Verhängung einer angemessenen, gesetzlich vorgesehenen Jugendfreiheitsstrafe nach kleineren Drogen- und Eigentumsdelikten durch die zuständige nationale Behörde.
[10] Mellech, Rezeption (2012) 61. In Frankreich beurteilt der Conseil Constitutionnel die Verfassungskonformität ex ante, aber die Fachgerichte (bzw „ordentlichen“ Gerichte) können eine Norm wegen Widerspruchs zur EGMR-Rsp unangewendet lassen, was zu Konflikten und dem Wunsch mancher Verfassungsexperten führt, dass die Fachgerichte eine Haltung des restraint (auto-limitation déliberée) einnehmen sollen, um den Conseil Constitutionnel nicht zu desavouieren.
[11] Vgl Weh, Das österreichische Verständnis vom Anwendungsbereich des Begriffs „civil rights“, EuGRZ 1988, 166. Ders, Die Straßburger Menschenrechtsjudikatur. Einfluss auf die Einbindung in das österreichische Rechtssystem, ÖJZ 1994, 696.
[12] Siehe Thienel, Die angemessene Verfahrensdauer (Art 6 MRK) im Lichte der Rechtsprechung der Straßburger Instanzen, ÖJZ 1993, 433. Ders, Vorbehalt zu Art 6 MRK ungütig, AnwBl 2001, 22. Zur Vorbehaltsjudikatur des EGMR siehe auch Weh, ÖIM-Newsletter 1996, 57.
[13] Berka/Binder/Kneihs, Grundrechte2 (2019) 5 umfassen mit dem Ausdruck „in unseren Breiten“, literarisch treffend, jedenfalls den europäischen Kontinent, gemeint sind aber auch die angrenzenden Gebiete im Nahen Osten und im Kaukasus; es wurde bereits Georgien erwähnt, das definitiv ausserhalb des europäischen Kontinents in Asien liegt, aber durch das christliche Kulturerbe und als Vertragspartei der EMRK aussenpolitisch und völkerrechtlich zum Westen tendiert. Sowohl im Konflikt mit dem grossen Nachbarn als auch mit Bezug auf eigene Menschenrechtsverletzungen judizierte die V. (fünfte) Kammer des EGMR auch zu Georgien. Vgl zB EGMR 03.07.2014, Georgien/Russland, Nr 13.255/07; zu Art 3 und 11 EMRK siehe EGMR 12.08.2015, Identoba ua/Georgien, Nr 73.235/12.
[14] Zu den Anfängen der GRC-Judikatur des VfGH siehe Pöschl, Verfassungsgerichtsbarkeit nach Lissabon, ZÖR 2012, 587 (590), die sich kritisch zur Änderung der Judikatur zum Unionsrecht äussert.
[15] EGMR 11.01.2007, Anheuser-Busch Inc./POR, Nr 73.049/01 Rn 49.
[16] Siehe EuGH C 235-17, EKOM/HUN, ECLI:EU:C:2018:971 (siehe va die Rn 63 ff des Schlussantrags vom 18.11.2018, in denen sich der dänische Generalanwalt grundlegend zu dieser Frage einlässt; der Fall selbst zählt zu den ungarischen Niessbrauchs-/Usus-fructus-Fällen, da Ungarn durch enteignungsgleiche Massnahmen und dem Verbot an Nicht-Ungarn, Landwirte mit Grundbesitz zu sein, sowohl die unionsrechtliche Kapital- und Niederlassungsfreiheit als auch Konventionsrechte wie zB Art 1 1. ZPEMRK berührte).
[17] So etwa Hilpold, Wiener Zeitung, 23. August 2020, 11.
[18] Berka/Binder/Kneihs, Grundrechte2 273: Alles in allem sei die Rolle des EGMR schwieriger als die eines nationalen Verfassungsgerichts. Er müsse den in der EMRK und ihren Zusatzprotokollen verankerten Rechten Geltung verschaffen, dürfe aber nicht die Gefolgschaft der ihm unterworfenen EMRK-Vertragsparteien verlieren.
[19] Vgl bezüglich der US Constitution und moderner „Originalisten“ kritisch zu dieser Auslegungsvariante bzw –methode: Rakove, Original Meanings. Politics and Ideas in the making of the Constitution (2003); ders, Tone Deaf to the Past: More Qualms About Public Meaning Originalism, Fordham Law Review 2015/84, 969; ders, The Framers of the Constitution did not worry about “Originalism“, Washington Post vom 16.10.2020.
[20] Der Begriff des judicial self restraint stammt laut Olechowski, Kelsen 607 von Felix Frankfurter, einem in Wien geborenen Juristen, der in Harvard lehrte und am US Supreme Court unter F.D. Roosevelt als associate justice diente; nachdem dieser lang dienende Präsident in den 1930/40er Jahren eine stark einschneidende Restrukturierungslinie zu Sanierung der Wirtschaft gemeinsam mit dem Kongress einschlug, stellten sich für das amerikanische Höchstgericht öfters Fragen der Grenzen des noch in einer Demokratie zulässigen Eingriffs. Den meisten Massnahmen der Roosevelt-Administration gegenüber verhielt sich der Supreme Court zurückhaltend; somit bewertete auch Frankfurter als einer der Stimmführer oftmals öffentliche Interessen hoch, die Grundrechts-Eingriffe indessen noch als verhältnismässig. Allerdings sind auch gegenläufige Aussagen überliefert, etwa im Fall der Hinrichtung von zwei Anarchisten (Sacco/Vanzetti), die Frankfurter kritisch in einem Buch aus 1927 aufarbeitete.
[21] Art 6 EMRK (faires Verfahren vor einem unabhängigen Tribunal in Zivil- und Strafsachen), im Rechtsvergleich siehe auch Art 6 USC (speedy trial); viele Verfahren betreffen strafprozessuale Aspekte; dazu Pilnacek, Zur Bedeutung des TAXQUET-Urteils des EGMR für das österreichische Geschworenenverfahren. Bemerkungen zu OGH 25.5.2011, 15 Os 162/109, JBl 2012, 228.
[22] Siehe zur EGMR-Judikatur zu Art 6 EMRK in ihrer Genese Weh, EuGRZ 1986, 214ff, 254; 652; 689; 692; EuGRZ 1987, 83; 240; 435; EuGRZ 1988, 166; 173; 177 ff (die Aufsatz-Titel werden hier aus Platzgründen nicht zitiert); siehe auch Wiederin in Kneihs/Lienbacher, Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht II/1, Art 6 EMRK; Thienel, Die angemessene Verfahrensdauer (Art 6 MRK) im Lichte der Rechtsprechung der Straßburger Instanzen, ÖJZ 1993, 473; Berichte zur EGMR-Rsp für 2017-2019: ders, Ausgewählte Rechtsprechung des EGMR 2017, ÖJZ 2018, 998; ders, Ausgewählte Rechtsprechung des EGMR 2018, ÖJZ 2019, 646 und ders, Ausgewählte Rechtsprechung des EGMR 2019, ÖJZ 2020, 586.
[23] EGMR 30.06.2008, Gäfgen/GER, Nr 22.978/05.
[24] Dazu näher Oreschnik, Verhältnismäßigkeit und Kontrolldichte (2019) 240 ff zur Kontrolldichte in der Rsp des EGMR.
[25] Strejcek, Grundrechtssubjektivität, in Merten/Papier/Kucsko-Stadlmayer (Hrsg), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und in Europa VII/1: Grundrechte in Österreich2 (2014) 139; Pöschl, Gleichheitsrechte, in Merten/Papier/Kucsko-Stadlmayer (Hrsg), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und in Europa VII/1: Grundrechte in Österreich2 (2014) 519 (569 ff); Hengstschäger/Leeb, Grundrechte3 (2019) Rz 7/10.
[26] Berka/Binder/Kneihs, Grundrechte2 (2019) 110; Strejcek in Merten/Papier/Kucsko-Stadlmayer 139 (140).
[27] Siehe EGMR 15.20.2020, Akbay ua/GER, Nr 40.495/15, Nr 37.273/15, Nr 40.913/15 und die Vorjudikatur zu “entrapment“, dem “agent povocateur“ und Beweisverwertungsverboten im Lichte des Art 6 EMRK, das ist für Deutschland EGMR 23.10.2014 (GK), Furcht/GER, Nr 23.10.2014, Nr 54.648/09. Der EGMR griff das Thema bereits im Urteil EGMR 09.06.1998, Teixera de Castro/POR, Nr 25.892/94 auf. Siehe auch Esser, Abschied von der Wahrheitssuche. Texte und Ergebnisse des 35. Strafverteidigerkongresses in Berlin (2012) 9 ff.
[28] Grabenwarter/Pabel, EMRK7 § 22 Rz 21; Wiederin in Merten/Papier/Kucsko-Stadlmayer, Handbuch der Grundrechte: Grundrechte in Österreich VII/12 (2014) 197, 203.
[29] Zur Mindestsicherung VfSlg 20.177/2017; Schutzbereich des Art I RassDiskrBVG (keine Verletzung).
[30] Zur Problematik Binder/Steiner, The European Court and Social Rights, in Binder et al (Hrsg), Social Rights in the Case Law of Regional Human Rights Monitoring Institutions (2017) 8.
[31] Im Jahr 2019 waren es 182 Beschwerden und nur fünf Österreich betreffende Urteile; im Jahr 2018 waren es 238 Beschwerden und lediglich neun Urteile. Daher ruhten Hoffnungen auf einer effektiveren Grundrechtsbeschwerde beim EuGH oder in einem Paradigmenwechsel jener grossen und mächtigen Staaten (zB UK, RUS), die den EGMR zunehmend an die lange Leine nehmen wollen. Vgl zum status quo Thienel, Ausgewählte Rsp des EGMR 2018, ÖJZ 2019, 646; ders, Ausgewählte Rsp des EGMR 2019, ÖJZ 2020, 586; siehe auch Hilpold, Wiener Zeitung, 23. August 2020, 11.
[32] Siehe die Übersicht bei Grabenwarter/Pabel, EMRK7 (2021) § 3 Rn 5ff mwN.
[33] Vgl Winkler, Liechtensteinisches Verfassungsrecht (2001) 76 und näher zur Funktion des StGH den Beitrag von N. Raschauer in diesem Band.
[34] Verfassungsgerichtshofsgesetz 1953 (VfGG) BGBl 1953/85 idF BGBl I 2020/24.
[35] Der in zum Ausdruck kommende Wille der Vertragsstaaten zeigte, dass diese zunächst (dh 1950) die strittigen Rechte auf Eigentum, Recht auf Bildung mit besonderer Berücksichtigung des Elternrechts und Wahlrecht aussparten (!), die erst 1954 in einem ersten Zusatzprotokoll den Vertragsstaaten zur Genehmigung und Ratifikation vorgelegt wurden.
[36] Siehe Art 130 ff und 144 B-VG; dazu näher N. Raschauer und Piska in diesem Band. Siehe auch Bezemek, Grundrechte in der Rechtsprechung der Höchstgerichte (2016) § 4. Zur Judikatur des VfGH und VwGH in Fragen der höchstpersönlichen Rechte siehe VfSlg 18.929/2009; VwSlg 14.748 A/1997; 17.640 und 17.646 A/2009. Somit wahrt auch der VwGH in Beachtung der Rsp des EGMR die Grundrechte der Betroffenen ungeachtet des Prüfungsmassstabes.
[37] Diese Erkenntnis findet sich schon bei Alexander Hamilton in Federalist Nr 81, wobei weder Kelsen noch Merkl sich auf diesen 1787 erschienenen Artikel bezogen, was daran liegen könnte, dass ausser einer Auswahl von Kiesselbach (Der amerikanische Federalist, Bremen 1964) keine deutsche Übersetzung verfügbar war; dies merkt Ermacora in seinem einführenden Bemerkungen seiner Ausgabe der Federalist Papers aus 1958 an. Ermacora, Der Föderalist von Alexander Hamilton, James Madison und John Jay (1958) 32; heute sind die besseren Übersetzungen bzw Ausgaben von Barbara Zehnpfennig (Die Federalist Papers, vollständige Ausgabe; zunächst Darmstadt 1993, dann München 2008) und Adams/Adams die üblichen Quellen auf Deutsch. Siehe daher Federalist Nr 81 in Adams/Adams (Hrsg), Hamilton/Madison/Jay: Die Federalist Artikel (1994) 489 oder in einer anderen Ausgabe wie Ermacora (1958) 428 ff (Übersetzt on Kamilla Demmer);
[38] Siehe dazu instruktiv in vergleichender Sicht Cappelletti, Judicial Review in the Contemporary World (1971) 70 ff (konkret zum Wandel des österreichischen Systems der Normenkontrolle zwischen 1920/1930).
[39] Das Stufenbautheorem hat der Kelsen-Schüler Adolf Merkl bereits zu einem Zeitpunkt ausgeführt, als die Bundesverfassung noch im Entwurfsstadium war. Siehe Strejcek, Der unvollendete Staat. Adolf Julius Merkl und die Verfassung der Republik Deutschösterreich (2019) 24. Siehe auch Olechowski, Kelsen (2020) 212. Grundlegend dazu Kucsko-Stadlmayer, Der Beitrag Adolf Merkls zur Reinen Rechtslehre, in R. Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 107.
[40] Es handelt sich um ein eigenes Bundesverfassungsgesetz (BGBl 1964/59), das mehrere staatsvertragliche Bestimmungen hinsichtlich ihres innerstaatlichen Ranges klarstellte und damit um eine authentische Interpretation seitens des Verfassungsgesetzgebers. Diese Lösung wurde aus europäischer Sicht vielfach gelobt.
[41] Bundes-Verfassungsgesetz BGBl 1930/1 idF BGBl I 2020/24.
[42] Staatsvertrag von Saint-Germain-en-Laye vom 10. September 1919 StGBl 1920/303 idF BGBl III 2002/179.
[43] Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich BGBl 1955/152 idF BGBl I 2008/2.
[44] Vgl VfSlg 19.865/2014; 19.955/2015 zu Art 21 Abs 2 GRC. Siehe auch Berka/Binder/Kneihs, Grundrechte2 (2019) 579.
[45] Die Ära der Alleinregierungen des Bundeskanzlers Klaus (1966—1970) und der Minderheitsregierung der SPÖ 1970/71 bzw Alleinregierung bis 1983 unter Bundeskanzler Kreisky erschwerte die Konsensfindung für Bundes-Verfassungsrecht. Vgl zu der Ära ab 1970: Rathkolb, Bruno Kreisky. Erinnerungen: Das Vermächtnis des Jahrhundertpolitikers (2007) 372 ff; in den folgenden Legislaturperioden, in denen eine Grosse Koalition die Verfassungsmehrheit innehatte, stiegen allerdings die teils aus Bequemlichkeit (anstatt einer verfassungskonformen legislativen Lösung) getroffenen, teils zum „Overruling“ von Erkenntnissen des VfGH eingesetzten Verfassungsbestimmungen in einfachen Gesetzen zahlenmässig an, mitunter gab es drei oder vier B-VG-Novellen in einem Jahr (zB 2012).
[46] Pionierhaft dazu für die ersten 20 Jahre die Studie von Ermacora/Nowak/Tretter, Die Europäische Menschenrechtskonvention in der Rechtsprechung der österreichischen Höchstgerichte (1983).
[47] Das österreichische Mitglied, Prof. Gabriele Kucsko-Stadlmayer, judiziert in der Kammer unter irischem Vorsitz; vgl zuletzt EGMR 15.10.2020, Akbay ua/GER, Nr 40.495/15; 37.273/15; 40.913/5.
[48] Siehe EGMR 08.04.2010 Frodl/AUT, Nr 20.201/04, wo der EGMR das österreichische, einfachgesetzliche System des Ausschlusses verurteilter Straftäter vom Wahlrecht (§ 21 NRWO) beanstandete; hinsichtlich der Grundrechtsträgerschaft ist bedeutsam, dass der Ausschluss des Beschwerdeführers von der politischen Mitwirkung angesichts der Schwere des Delikts (Mord) gerechtfertigt erschien. Gleichwohl griff der EGMR im Gefolge der Judikatur zu den britischen Fällen Hirst ua (EGMR 06.10.2005, Hirst/UK, Nr 74.025/01) die mangelnde Differenzierung in der gesetzlichen Ausgestaltung des Ausschlusses auf und bewirkte ein nationales Umdenken und eine B-VG-Novelle betreffend die Ausschlussermächtigung in Art 26 Abs 5 B-VG.
[49] EGMR 06.10.2005, Hirst/UK, Nr 74.025/01; EGMR 23.11.2010, Greens and M.T./UK, Nr 60.041/08; 60.054/08; EGMR 08.04.2010, Frodl/AUT, Nr 20.201/04.
[50] Die Rsp des EGMR geht daher zu weit, weil es im Rahmen des Beurteilungsspielraums eines Vertragsstaates liegt, an eine mehr als einjährige, unbedingte Haftstrafe auch die Folge des zeitweiligen Verlusts politischer Rechte zu knüpfen, wie es bis 2010 der Fall war und immer noch für das passive Wahlrecht iSd Art 26 Abs 5 B-VG iVm § 41 NRWO der Fall ist; in Österreich wurde § 21 NRWO und diesem folgend die Landeswahlordnungen geändert; fortan muss differenziert nach den Delikten, bei denen ein Ausschluss in Betracht kommt, der Richter/die Richterin (oder der/die Vorsitzende eines Schöffen- oder Geschworenengerichts) den Wahlausschluss explizit im Strafurteil aussprechen. Siehe § 21 NRWO.
[51] Auch der VfGH ist durch die Präjudizialität in der konkreten Normenkontrolle gebunden, in der abstrakten aber auf Anträge (zB nach Art 89 B-VG) angewiesen; siehe zu den unterschiedlichen Modellen Cappelletti, Judicial Review in the Contemporary World (1971) 56 (mit genauer Analyse der nationalen Modelle); zum US Supreme Court siehe das hilfreiche Kompendium der Georgetown University Rugg/Solomon/Calkins/Hicks, Identifying and Understanding the Different Standards of Judicial Review (2019) 3 ff; Hay, US-amerikanisches Recht7 (2015) 76 ff.
[52] Vgl zB EGMR 07.02.2012 (GK), Caroline von Hannover II/GER, Nr 40.660/08; Nr 60.642/08.
[53] BGBl III 2010/47. Vom NR wurde das 14. ZP als verfassungsändernd ratifiziert. Das lange Hinziehen des Ratifikationsprozesses bis 2010 erforderte eine Art Übergangsregel (das „14bis“. ZPEMRK).
[54] Siehe Potvin-Solis, La liaison entre le principe de non-discrimination et les libertés et droits fondamentaux des personnes dans les jurisprudences européennes, RDTH 2009, 967 (979 f).
[55] Bundesverfassungsgesetz vom 3. Juli 1973 zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung BGBl 1973/390.
[56] VfSlg 13.896/1994 (erstmaliger Ausspruch, leitende Entscheidung), 14.650/1996, 16.080/2001, 17.026/2003, 19.642/2012, 20.177/2017.
[57] EGMR 16.03.2010 (GK), Carson/UK, Nr 42.184705; 18.07.2009 (GK), Adrejeva/LAT, Nr 55.707/00; 29.10.2009, Si Amer/FRA, Nr 29.137/06.
[58] Siehe auch Schmahl/Winkler, Schutz vor Armut in der EMRK, AVR 2010, 425.
[59] Gemeint sind Art 2 StGG 1867; Art 66 StV St. Germain; Art 7 B-VG; Art 6 StV Wien 1955; Art 14 EMRK; Art I RassDiskrBVG; Art 21 ff GRC.
[60] EGMR 07.08.1995, Johansen/NOR, Nr. 17.383/90, Rz 64 (mit Bezug auf das norwegische Kindschaftsrecht, es ging um die Entziehung eines Kindes aus der Obsorge wegen vorgeblicher Vernachlässigung und dem unsteten Lebenswandel der Mutter, aber auch um ihr Recht den Familienzusammenhalt zu wahren und bei Adoptionsentscheidungen gefragt zu werden).
[61] EGMR 26.04.1979, Sunday Times/UK, Nr 6538/74 Rz 59.
[62] Siehe EGMR 15.10.2020, Yildiz Akbay Soytürk/GER, Nr 40.495/15 (von Polizeiangehörigen initiierte Straftaten, die von einem bereits verstorbenen Beschwerdeführer begangen wurden, ohne dass im Strafverfahren der Aspekt des “entrapment“ hinreichend beachtet wurde); leitendes Urteil ist hier EGMR 23.10.2014, Flucht/GER, Nr 54.648/09; siehe zum agent provocateur und dem Gebot des fairen Strafverfahrens (Art 6 EMRK) auch EGMR 09.06.1998, Teixera de Castro/POR, Nr 25829/94 .
[63] Siehe dazu schon frühzeitig Kucsko-Stadlmayer, Eigentumsschutz in der EMRK, in Ermacora/Nowak/Tretter (Hrsg), Die Europäische Menschenrechtskonvention in der Rechtsprechung der österreichischen Höchstgerichte (1983); Wiederin, Die Unverletzlichkeit des Eigentums, in FS Rill (2010) 273; Berka/Binder/Kneihs, Grundrechte2 (2019) 438 ff.
[64] Siehe Hengstschläger/Leeb, Grundrechte3 (2019) Rz 8/1 und 8/7; EGMR 18.12.1984, Sporrong and Lönnroth/SWE, Nr 7151 und 7152/75, EuGRZ 1983, 583 (Erweiterung des Schutzes auf sonstigen Eigentumseingriff); EGMR 19.12.1989, Mellacher/AUT, Nr 10.522/89, ÖJZ 1990, 150; EGMR 22.06.2004, Broniowski/POL, Nr 32.443/96, ÖJZ 2006, 130.
[65] EMGR 11.01.2007 (GK), Anheuser-Busch Inc./POR, Nr 73.049/01.
[66] EGMR 09.12.1994, STRAN Greek Refineries and Stratis Andreadis/GRE, Nr 13.427/87 (Enteignungen und deren Rückgängigmachung, anschliessender Schiedsspruch über Entschädigung für den Begünstigten und dessen grundrechtswidrige Aufhebung durch den griechischen Gesetzgeber); EGMR 14.02.2006, Lecarpentier ua/FRA, Nr 67.847/01.
[67] Kriebaum, Eigentumsschutz im Völkerrecht (2008) 45 ff; Ress, Reflections on the Protection of Property under the European Convention in Human Rights, in FS Wildhaber (2007) 625; Wildhaber, The Protection of Legitimate Expectations in Human Rights Law, in FS Baudenbacher (2007) 253.
[68] “Unreasonableness“ (Unvernunft; Irrationalität) im juristischen Kontext ist schwer übersetzbar, wäre aber vergleichbar mit dem vom VfGH verwendeten Begriff der Denkunmöglichkeit bei der Rechtsanwendung. Der U.S. Supreme Court verwendet auch den Begriff „capricious“ für eine denkunmögliche bzw willkürliche Auslegung. Hier handelt es sich ganz offensichtlich um eine Grobprüfung bzw Vertretbarkeitskontrolle, die sich mit dem restraint des EGMR gegenüber der Entscheidung eines zuständigen Höchstgerichts in einer zivilrechtlichen Angelegenheit erklärt. Dass Art 6 EMRK hier nicht ins Spiel kam, ist allerdings eigentümlich und wird im Minderheitenvotum auch kritisiert.
[69] Siehe OGH 17.06.2019, 17 Ob 6/19k, JBl 2019, 789-796, mit krit Anm von B. König.
[70] König geht in seiner Besprechung in JBl 2019, 794—796 von der grundsätzlichen Abtretbarkeit aller Forderungen nach dem ABGB aus, zeigt aber auf, dass die OGH-E nicht überzeugend ist, weil sie ua wesentliche Gläubigerinteressen und den Schutzzweck des Insolvenzverfahrens ausser Acht lässt. Zweifellos sind aber solche öffentliche Interessen für den EGMR von Bedeutung, weshalb im Lichte des Art 1 1. ZP EMRK der bisherigen österr Lehre on der Nichtabtretbarkeit von Anfechtungsrechten gegenüber dem „Import“ deutscher Ansichten der Vorzug zu geben ist. Richtig schreibt König, dass es (schon) schwer fällt, den Gedanken aufzunehmen, dass ein Dritter (der Zessionar) den Anspruch geltend machen kann, der (pimär) auf Unwirksamkeit einer Rechtshandlung bzw Unterlassung fremden Gäubigern gegenüber geltend machen kann (siehe im Weiteren König, Glosse, JBl 2019, 795).
[71] Diese abweichende Meinung bezog sich darauf, dass keine berechtigte bzw gesicherte Erwartung der beschwerdeführenden Gesellschaft vorlag, dass die Marke zu ihren Gunsten registriert würde, sondern nur eine unsichere (on a sound legal basis).
[72] Instruktiv VfSlg 19.642/2012: Der AsylGH (Vorgänger des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) als fachliche Prüfinstanz in Asylsachen) unterliess die genauere Aufklärung der Staatsangehörigkeit (Georgien/Russische Föderation) des Beschwerdeführers und übernahm ungeprüft die bereits fünf Jahre alte Einschätzung der Sicherheitslage vor Ort; diese Entscheidung war willkürlich, weil dieser in wesentlichen Punkten jegliche Ermittlungstätigkeit unterliess.
[73] Siehe Strejcek/Schlintner, Kunstfreiheit im öffentlichen Raum, JRP 2018, 102; dort finden sich auch weitere Hinweise auf die Rsp des VfGH zu Art 17a StGG und der Versuch die Darbietungen oder sichtbaren Kunstwerke auf ihre Eingriffsintensität hin zu untersuchen. Anlass für den Aufsatz war die Entfernung eines Gedichts von Eugen Gomringer von einer deutschen Hochschule für Sozialberufe, wodurch ein Konflikt entstand.
[74] Siehe zB VfSlg 19.717/2012, 590; im Anlassfall kam es zu keiner willkürlichen Entscheidung bzw zu keiner Gleichheitsverletzung auf Vollziehungsebene, doch die Formel findet sich auch dort vor der schematischen Prüfung, ob in einem Verfahren zur Erteilung von Spielbank-Lizenzen dem Bundesministerium für Finazen ein in die Verfassungssphäre reichender Fehler unterlaufen ist, was der VfGH angesichts eines ausgefeilten Leistungskatalogs und dessen sachlicher Nachprüfung bzw Anwendung verneinte.
[75] So auch im angloamerikanischen Sprachgebrauch der Begriff “arbitrary“ oder in der Form des Adverbs “arbitrarily“ (entspricht dem deutschen Adverb „willkürlich“). Bezeichnender Weise verwendet Cappelletti, Judicial Review in the Contemporary World (1971) 34 den Begriff “arbitrary“ nicht im Kontext mit der Rsp der Gerichte von heute, sondern nur, um die willkürlichen Entscheidungen französischer Richter im ancien régime oder die intellektuell willkürliche Annahme eines nicht beweisbaren Faktums zu umschreiben. Dies stützt vorsichtig die Annahme, dass das Verbot von Willkür (im objektiven Sinn) eine Eigenheit der deutschen Rechtssprache sein könnte.
[76] Übersicht bei Hengstschläger/Leeb, Grundrechte3 (2019) Rz 7/27.
[77] VfSlg 19.642/2012.
[78] BGBl I 2012/51.
[79] Vgl Hengstschläger/Leeb, Grundrechte3, Rz 7/27. Die zit Rsp bezieht sich grossteils auf die ursprüngliche Formulierung des Art 144 Abs 1 B-VG. Gleichwohl hat der VfGH die modifizierte Formel auf die Erkenntnisbeschwerde übertragen. Demnach handelt ein VwG willkürlich, wenn es zB die Abwägung vermissen lässt oder die Rechtslage gehäuft verkennt; dass jegliche Ermittlung in eine gewisse Richtung unterlassen wurde, war oftmals ein Vorwurf in Asyl- und Fremdenrechtsfragen.
[80] Im angloamerikanischen Sprachgebrauch bedeutet herablassende Kritik “criticizing in a condescending way“. Allerdings ist es das Wesen der Justizhierarchie, dass die Oberinstanz auch harsche Kritik üben kann.
[81] VfSlg 19.642/2012.
[82] Chevron v Natural Resources Defense Council (467 US 837 (1984); für den Hinweis danke ich der Doktorandin Mag.a Teresa Schön.
[83] Vgl Rugg/Solomon/Calkins/Hicks, Identifying and Understanding the Standards of Law Review (2019) die zwei getrennte Fragen des review ausmachen: Die erste betrifft die Frage, ob eine klare Auslegung vorgegeben ist; die zweite, ob eine agency eine vertretbare Auslegung bei Unklarheit vornimmt (Chevron-Formel): „First, always, is the question whether Congress has directly spoken to the precise question at issue. If the intent of Congress is clear, that is the end of the matter; for the court, as well as the agency, must give effect to the unambiguously expressed intent of Congress. If, however, the court determines Congress has not directly addressed the precise question at issue, the court does not simply impose its own construction on the statute, as would be necessary in the absence of an administrative interpretation. Rather, if the statute is silent or ambiguous with respect to the specific issue, the question for the court is whether the agency's answer is based on a permissible construction of the statute. (Id. at 842-843)“.
[84] Ermacora, Handbuch der Grundfreiheiten und der Menschenrechte (1963) 551.
[85] Neben dem Gleichheitssatz der Bundesverfassung in Art 7 B-VG siehe die Art 66 StVStG, Art 6 StVW 1955 und Art 14 EMRK. Die RassDiskrKonvention wurde erst 1973 transformiert und in einem eigenes RassDiskrBVG umgesetzt, sie ist Massstab für die Gleichheitsrechte von Nicht-Staatsangehörigen untereinander.
[86] UN-Dokument über “The main causes and types of discrimination“, zit nach Ermacora, Handbuch 551.
[87] VfSlg 19.641 und 19.642/2012.
[88] Ermacora forderte eine Ausdehnung des spezifischen Minderheitenschutzes über das Vehikel des Art 14 EMRK. Überträgt man diesen Gedanken auf den gleichen Anspruch auf Sozial- und Transferleistungen ist man nahe an der Auslegung, die der EGMR zB im Urteil der Grossen Kammer vom EGMR 16.03.2008, Carson ua/UK, Nr 42.184/05 und weiteren Fällen zu Transferleistungen geübt hat. Siehe vergleichsweise für Österreich das aufhebende Erkenntnis des VfGH VfSlg 20.244/2018 (zur Gleichheitswidrigkeit der starren Deckelung der Mindestsicherung für Mehrpersonenhaushalte). Siehe auch VfSlg 20.177/2017.
[89] Tiefschürfend dazu die fast tausendseitige Studie von Pöschl, Gleichheit vor dem Gesetz (2008) 15 ff, wo die Autorin für eine zurückhaltende und differenzierte Auslegung plädiert. Siehe auch dies, Gleichheitsrechte, in Merten/Papier/Kucsko-Stadlmayer (Hrsg), Handbuch der Grundrechte: Grundrechte in Österreich VII/12 (2014) 519 (574).
[90] Zutreffend von Gleichheitssätzen in der Mehrzahl sprechen Berka/Binder/Kneihs, Grundrechte2 (2019) 573. Zur Einstufung des Art 23 GRC als verfassungsgleiches Recht siehe VfSlg 19.866/2014.
[91] Auf Ebene der EU ist hier auch Art 39 GRC zu beachten, die politischen Rechte der EU werden hier nicht näher behandelt; siehe aber Berka/Binder/Kneihs, Grundrechte2 139 f.
[92] Art 2 1. ZP EMRK iVm Art 14 EMRK; siehe Strejcek, Bildungsgrundrechte einst und heute, in FS Ebert (2019) 905; siehe auch Strejcek, Zur Neuordnung des postsekundären Bildungssektors, JRP 2016, 209 (214 f).
[93] Oreschnik, Verhältnismäßigkeit und Kontrolldichte (2019) 240 ff.
[94] Vgl Oreschnik, Verhältnismäßigkeit und Kontrolldichte, 244 (Kapitel V: Kontrolldichte in der Rechtsprechung des EGMR); Grabenwarter/Pabel, EMRK7 (2021) § 18.
[95] Dogmatisch ist es auch argumentierbar, dass die Diskriminierung einer Gruppe zumeist auf Vorurteilen oder einer willkürlichen Praxis beruht; siehe zB EGMR 22.7.2010, P., B. und S./AUT, Nr 18.984/02 (Diskriminierung im Recht auf Privat- und Familienleben dadurch, dass eine Mitversicherung gleichgeschlechtlicher Partner nicht möglich war; Verletzung der Art 8 im 14 EMRK; willkürliche Benachteiligung auf Grund der sexuellen Ausrichtung).
[96] Siehe Strejcek in Merten/Papier/Kucsko-Stadlmayer 139.
[97] EGMR 16.03.2008 (GK), Carson ua/UK, Nr 42.184/05.
[98] Dazu Grabenwarter/Pabel, EMRK7 § 3 Rn 10.
[99] Siehe schon EGMR 16.07.1971, Ringeisen/AUT, Nr 2614/65.
[100] Aus der aktuellen Rsp siehe EGMR 27.11.2008, Potzmader/AUT, Nr 8416/05 mwN; EGMR 15.09.2003, Meischberger/AUT, Nr 51941/99.
[101] Die hier erwähnten Rechtsquellen verbürgen Minderheitenschutz und politische Grundrechte, wie zB das allgemeine und freie Wahlrecht, wonach Österreich eine auf geheimen und freien Wahlen beruhende Bundesregierung haben soll, sodass auch die Regierung (!) indirekt demokratisch legitimiert sein muss, wie Art 8 StV Wien 1955 (StVW) ausführte, ohne hier Systemvorgaben der Bundes-Verfassungsgesetz-Novelle 1929 zu berühren (Ernennungs- und Abberufungsrechte des Bundespräsidenten). Gleichzeitig mit der EMRK wurde der Rang dieses Artikels sowie des Minderheitenschutzes im StVW im innerstaatlichen Recht authentisch klargestellt. Dass das BVG BGBl 1964/84 auch für die verfassungsändernden Regelungen des StVW 1955 gilt, muss heute wieder eigens herausgestrichen werden, weil diese Regelungen in den letzten Jahren aus dem Fokus der Betrachtung geraten sind. Dabei handelt es sich um materiell sehr bedeutende Vorgaben, wie die Abkehr vom Nationalsozialismus, die sich nicht auf das Verbotsgesetz beschränkt. Vielmehr verlangt Art 9 StVW, dass die Zweite Republik sämtliche Spuren des Nationalsozialismus beseitigen soll, in weiterer Folge stand auch Art 10 StVW der Restauration entgegen und verpflichtete zur Aufrechterhaltung der Habsburgergesetze. Hier fand eine Aufweichung durch die Änderung des Art 60 Abs 3 B-VG (und des § 6 Abs 3 BPräsWG) statt, da sich keine Gefahr der Restauration durch Kandidatur eines Habsburgers im demokratischen Rahmen erkennen liess. Somit sind vor allem Art 8 und 9 StVW 1955 noch wichtig: Im ersteren Fall (Art 8 StVW) geht es demnach um die zeitlich erste explizite Verankerung des mittlerweile auch im B-VG (Art 23a, Art 26, Art 60, Art 95 und Art 117 Abs 2 B-VG) ausdrücklich verankerten, freien Wahlrechts; im zweiten genannten Beispiel (Art 9 StVW) gerade um jene Aspekte, welche die Unterbindung der in den letzten Jahren aufbrodelnden und international wahrgenommenen, unerfreulichen Anklänge an NS-Terminologie und Verharmlosung der Verbrechen dieses Regimes (Stichwort „Liederbuchaffäre“) betreffen. Von einer Obsoleszenz dieser beiden Verfassungsregeln kann füglich keine Rede sein.
[102] VfSlg 11.500/1987.
[103] Siehe Hengstschläger/Leeb, Grundrechte2 Rz 7/27.
[104] EGMR 06.10. 2005 (GK), Hirst/UK, Nr 74.025/01; EGMR 8.7.2008, Georgische Arbeiterpartei/GEO, Nr 9103/04; EGMR 20.05.2010, Alajos Kiss/HUN, Nr 38.832/06. Näher dazu Grabenwarter/Pabel, EKMR7 § 23 Rn 117.
[105] Sogenannte „where-about-rules“; siehe EGMR 18.01.2018, FNASS/FRA, Nr 48.151/11, 77.769/13.
[106] EGMR 30.06.2008, Gäfgen/GER, Nr 22.978/05; siehe auch EGMR 29.07.2010 (GK) Nr 3295/06.
[107] EGMR 04.04.2001, Tammer/EST, Nr 41.205/98: Frau Tammer wurde von einem Journalisten als schlechte Mutter und lose Frau beleidigt, die Strafe für den Redakteur erachtete der EGMR als adäquat. Da es sich um keine public figure handelte, war die herabwürdigende Konnotation der Politikergattin von der Meinungsfreiheit nicht gedeckt, die Strafe hingegen zum Schutz der Rechte Dritter bzw der öffentlichen Ordnung erforderlich bzw zulässig. Zum Schutz von public figures, also im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit stehenden Personen, siehe EGMR 24.06.2004, Caroline von Hannover/GER, Nr 59.320/00; 07.02.2012 (GK), Caroline II/GER, Nr 40.660/08; 60.641/08. Berka/Binder/Kneihs, Grundrechte2 163.
[108] Das Urteil des EuGH C-193/17, Cresco Investigation GmbH/AUT, ECLI:EU:C:2019:43 ist ein Negativbeispiel eines allzu einseitigen Fokus auf eine vorgebliche Diskriminierung eines Arbeitnehmers. Die Neuregelung nach dem EuGH-Urteil hat nunmehr unter dem Prätext des „Wahlfeiertags für alle“ im Ergebnis zu einer Diskriminierung von rund 5% der österreichischen Christen geführt, nämlich der Evangelischen (AB und HB), der Methodisten und der Altkatholiken, die künftig keinen Rechtsanspruch mehr haben, an einem hohen gesetzlichen Feiertag den Gottesdienst feiern zu können; in dieser Hinsicht stellt sich das EuGH-Urteil auch als “encroachment“ bezüglich der nationalen Gesetzgebung in Kultusangelegenheiten dar. Unberührt blieb vom Urteil und von der Neuregelung der Jom Kippur als individueller Feiertag, der sich zu Gunsten der jüdischen bzw israelitischen Kultusgemeinden auf eine nicht-gesetzesförmliche Vereinbarung gründet. Die Karfreitagsregelung war Ergebnis eines Konsenses der Parteien, die der damals weitaus grössten römisch-katholischen Kirche den Maria-Empfängnis-Tag (8. Dezember), den evangelischen, methodistischen und der altkatholischen Kirche aber den Karfreitag zugestehen wollten, was auch einem jahrzehntelangen Grundkonsens entsprach.
[109] EGMR 25.10.2011, Taner Akçam/TUR, Nr 27.520/07. In diesem, wie Experte Lehofer in seinem Blog schreibt, in einer Tragweite „neuen“ Urteil führt der EGMR aus, dass der Beschwerdeführer, ein Professor, der zum Armeniengenozid, einem in der Türkei heiklen Feld arbeitet, zu einer Gruppe von Personen gehört, die wegen ihrer Anschauungen verfolgt und stigmatisiert werden können. Es genügt, dass aufgrund von Anzeigen radikaler Nationalisten der Beschwerdeführer Verfolgungen nach Art 301 türkisches StGB ausgesetzt werden kann, dh er wurde im Anlassfall gar nicht bestraft oder aktuell verfolgt, sondern war erst von einer Verfolgung bedroht, was aber der EGMR angesichts der Unbestimmtheit der Strafdrohung türkenfeindlichen Verhaltens zu Recht als nicht hinnehmbaren Eingriff in Art 8 und 10 EMRK wertet.
[110] VfSlg 20.225/2017 (Aufhebung der Wortfolge „verschiedenen Geschlechts“).
[111] Näher dazu Grabenwarter, Verhältnismäßig einfach: Der Wandel der Vorbehalte des StGG, ÖJZ 2018; krit Berka/Binder/Kneihs, Grundrechte2 190.
[112] EGMR 25.10.2018, E.S./AUT, Nr 38.350/12; die Bestrafung richtete sich gegen eine (unbewiesene) Aussage, die einen Vorwurf der Pädophilie gegenüber dem Religionsgründer artikulierte; diese Aussage ist aber keine ausschliesslich wertende (Meinung), sondern eine Tatsachenaussage, für die es an Belegen fehlte. In einem vergleichbaren Fall (der Koran sei „schlimmer als Corona“) verweigerte der Immunitätsausschuss des NR (am 14.10.2020) die Auslieferung des FPÖ-Abgeordneten Ing. Norbert Hofer, weil diese Aussage im Kontext mit seiner Tätigkeit als Abgeordneter stand. Zweifellos hat auch diese Aussage einen hetzerischen und unsachlichen Unterton und lässt mangelnden Respekt gegenüber einem für den Islam heiligen Buch erkennen.
[113] EGMR 20.09.1994, Otto Preminger Institut/AUT, Nr 13.470/87, ÖJZ 1995/154.
[114] Grabenwarter, Filmkunst im Spannungsverhältnis zur Meinungsfreiheit, ZaöRV 1995, 128 ff.
[115] Grabenwarter/Pabel, EMRK7 (2021) § 23 Rn 56 (Besonderheiten bei Eingriffen in die Kunstfreiheit).
[116] Öhlinger/Eberhard, Verfassungrecht12 (2019) Rz 799a.
[117] Siehe EGMR 10.01.2011, MGN/UK, Nr 39.401/04.
[118] Das Gedicht lautet in aller Kürze: Avenidas|Avenidas y flores| Avenidas y flores y mujeres|y un ammirador. Am „Bewunderer“ weiblicher Schönheit stiessen sich die Gegnerinnen des Poems, die dessen Entfernung erwirkten.
[119] Siehe zur Abwägungsfrage Strejcek/Schlintner, JRP 2018, 102.
[120] Siehe dazu schon Nowak/Strejcek, Das Wahl- und Stimmrecht, in Machacek/Pahr/Stadler, Grund- und Menschenrechte in Österreich III (1995) 9 ff; Holzinger/Unger in Korinek/Holoubek et al, Österreichisches Bundesverfassungsrecht I/2 (9. Lfg 2009) Art 26 B-VG und Holzinger/Unger in Korinek/Holoubek et al, Österreichisches Bundesverfassungsrecht II/1 (9. Lfg 2009)Art 3 1. ZP EMRK.
[121] EGMR 06.10.2005, Hirst/UK, Nr 74.025/01.
[122] EGMR 08.04.2010, Frodl/AUT, Nr 20.201/04. Siehe J. Stern, Wahl und Zelle, juridikum 2019, 174.
[123] EGMR 09.12.1994, STRAN Greek Refineries and Stratis Andreadis/GRE, Nr 13.427/87 Rn 46-48 (Verletzung des Art 6 EMRK durch ein Gesetz, das in seiner Wirkung einen Schiedsspruch aufhebt); siehe ÖJZ 1995/30.
[124] Grabenwarter/Pabel, EMRK7 (2021) § 3 Rz 18.
[125] Zur Wirksamkeit der Konvention ab 1982 im Fürstentum Liechtenstein siehe N. Raschauer in diesem Band.
[126] Der EGMR bezeichnet selbst seine Rsp als case law.
[127] Siehe EGMR 09.12.1994, STRAN Greek Refineries and Stratis Andreadis/GRE, Nr 13.427/87 Rn 49.
[128] Weitere Hinweise auf Urteile des EGMR in diesen Fragen bei Grabenwarter/Pabel, EMRK7 §§ 18 und § 22 Rn 38.
[129] So schon Ermacora, Die sudentendeutschen Fragen. Rechtsgutachten mit dem Text des Vertrags zwischen der BRD und der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit (1982) 155 ff; dasselbe gilt aber auch für die viel zu schleppende Restitution an Opfer des NS-Systems durch Österreich; siehe die Rezension von Serloth, Nach der Shoah (2019) durch Halpert, Europäische Rundschau 2010/1, 109 f.
[130] Grabenwarter/Pabel, EMRK7 §§ 18 und § 22 Rn 38 f.
[131] Oreschnik, Verhältnismäßigkeit und Kontrolldichte (2019) 240.
[132] EGMR 25.12.1994, Stjerna/FIN, Nr 18.131/91; EGMR 06.09.2007, Johansson/FIN, Nr 10.163/02. Vor allem skandinavische Länder achten auf eine gewisse Einheitlichkeit, die identitätsstiftend wirkt., wie das verbindliche Anfügen von „dottir“ für Tochter oder „son“ für Sohn in der Republik Island.
[133] EGMR 06.05.2008, Rehlingen ua/GER, Nr 33.572/02; EGMR 06.05.2008, Heidecker-Tiemann, Nr 31.745/02.
[134] Einschlägig hiezu Kishons Satire „Der Titelwalzer“: Der israelische Autor Ephraim Kishon, der regelmässig seinen Übersetzer Torberg und andere Freunde in Wien besuchte, wurde bereits am Flughafen in Wien-Schwechat und sodann im Hotel und im Kaffeehaus abwechselnd als Professor, Hofrat und Doktor tituliert, obwohl keiner der Titel zutraf; anfänglich wehrte er sich dagegen, bei seiner Abreise empfand er es aber bereits als Manko, dass ihn niemand mehr (falsch) titulierte.
[135] Ich danke meiner Mitarbeiterin Mag.a Barbara Weiß für den Hinweis auf diese Weiterentwicklung in der Republik Island.
[136] Vgl Grabenwarter/Pabel, EMRK7 § 22 Rn 39.
[137] Die Eltern waren offenbar Fans der Hardrockband Guns n‘ Roses, deren Sänger Axl Rose heisst.
[138] EGMR 06.09.2007, Johansson/FIN, Nr 10.163/02.
[139] EGMR 24.10.1996, Guillot/FRA, Nr 22.500/93. Grabenwarter/Pabel, EMRK7 § 23 Rn 39.
[140] Nicht ganz unähnlich scheint „Fleur de Marie“ der Kombination „Joy Pamela“, da „Joy“ auch „Freude“ bedeutet, in den USA aber, anders als in Österreich, als Vorname nicht unüblich ist. Die betroffene, seriöse Politikerin führt aus verständlichen Gründen nur ihren zweiten Vornamen; nicht immer machen Eltern Kindern eine Freude, wenn sie die Phantasie spielen oder ausufern lassen.
[141] EGMR 01.02.2010, Kemal Taskin/TUR, Nr 30.206/04 (kurdische/türkische Schreibweise).
[142] EGMR 11.09.2007, Bulgakov/UKR, Nr 59.894/00. In diesem Fall ging es um die Ukrainisierung der Namen. Oft unterscheiden sie sich von anderen slawischen Bezeichnungen nur marginal (wie zB die Ortsnamen für Tarnopol/Tarnopil).
[143] Sautner, Anti-Doping-Recht. Dopingbekämpfung im Lichte der Bundesverfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention (2018) 7 ff.
[144] Sautner, Anti-Doping-Recht 8 (Geleitwort/Vorwort).
[145] EGMR 18.01.2018, FNASS/FRA, Nr 48.151/11, 77.769/13.
[146] Fairness im (und vor dem) Wettkampf konstituiert per se ein öffentliches Interesse und ist unabhängig von der Frage zu sehen, ob Zuschauer über die wahren Verhältnisse und Fähigkeiten eines gedopten Sportlers getäuscht werden. Im Lichte der Vorbildwirkung von Spitzenathletinnen und -athleten gegenüber jungen Menschen ist auch der Gesundheitsaspekt von Bedeutung im Lichte des Art 8 EMRK. Auch der EuGH betonte im Urteil Meca-Medina und Majcen/KOM den „legitimen“ Zweck von Antidopingmassnahmen, die solcherart keine Wettbewerbsbeschränkung darstellten, wohl aber als wirtschaftsrelevante Sportregulative dem Anwendungsbereich des Unionsrechts unterliegen (siehe Folgefussnote).
[147] Vgl EuGH 18.07.2006, Meca-Medina und Majcen/KOM, C-419/04p, ECLI:EU:C:2006:492 (laut dem EuGH zwar im Rahmen wirtschaftsrelevanter Eingriffe durch ein Sportregulativ des IOC ein Eingriff in Unionsrecht, aber keine Verletzung; David Meca-Medina galt als Schwimmerhoffnung Spaniens; Igor Majcen ist ein slowakischer Handballer); im Ergebnis fällte der EuGH (Luxemburg) nach einer ausführlichen und substanziellen Aufarbeitung durch Generalanwalt Léger (I-6995) die Zurückweisung der Beschwerde gegen Verhängung von Dopingsperren durch das IOC. Der EuGH behielt sich aber vor, bei exzedierenden Strafmassnahmen die Frage der Dopingsperre in künftigen Fällen weiter zu judizieren.
[148] Vgl zur Problematik der Lebensbeendigung aus der österreichischen Literatur Bernat, …dem Leben ein Ende setzen, ÖJZ 2002, 92; Kneihs, Sterbehilfe und Verfassung (2008) 19ff; Kopetzki, Unterbringungsrecht (1995) 45 ff; ders, Grundriss des Unterbringungsrechts (2012) 124. Berka/Binder/Kneihs, Grundrechte2 243.
[149] EGMR 16.12.2010, A., B., C./IRE, Nr 25.579/05. Gegenstand der Beschwerde war das nationale Verbot der Fristenlösung (Schwangerschaftsabbruch im ersten Drittel) nach dem irischen “Offences Against the Person Act“ aus 1861, der Abtreibungen in der Republik Irland generell unter Strafe stellt.
[150] EGMR 16.12.2010, A., B., C./IRE, Nr 25.579/05 Rz 243.
[151] Ebd Rz 235.
[152] Ebd Rz 237.
[153] Zu weiteren Informationen betreffend das Normenkontrollverfahren G 139/2019 kann die Homepage des VfGH (vgfh.gv.at) konsultiert werden.
[154] EGMR 12.03.2009, Gütl/AUT, Nr 49.686/99; siehe auch ÖJZ MRK 2009/684.
[155] EuGH C-193/17, Cresco Investigations GmbH, ECLI:EU:C:2019:43.
[156] Freitagsruhegesetz 1957 BGBl 1957/153 idF BGBl I 2019/22.
[157] Auf Wunsch der damals über 90% der Bevölkerung in sich vereinenden römisch-katholischen Kirche wurde der Maria-Empfängnistag (8.12.) vom Gesetzgeber zum Feiertag für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer festgelegt; evangelische (AB und HB), methodistische und altkatholische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer benötigten hingegen fortan keinen Urlaubstag, um den Karfreitag begehen zu können; bis heute besteht auch eine sachlich gerechtfertigte Privilegierung von jüdischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern am Jom-Kippur-Tag (Versöhnungstag, hoher jüdischer Feiertag), die aber nicht gesetzlich verankert ist.
[158] Die Etablierung eines islamischen Feiertags (zB am Tag des Fastenbrechens) läge im Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Orthodoxe stehen wiederum vor dem Problem der kalenderbedingt, zeitversetzten Feiertage; in Österreich sind nach der römisch-katholischen Kirche Muslime und Orthodoxe an zweiter und dritter Stelle, gefolgt von den evangelischen Kirchen, dies als Folge der Zuwanderung aus den entsprechenden Regionen.
[159] Zudem müsste dieser Wahl-Feiertag binnen einer Frist (meist um das Jahresende für das Folgejahr) angemeldet werden; im Lichte familiärer Dispositionen und der Planung von schulfreien Tagen stellt diese Rechtslage eine Behinderung der Religionsausübung dar.
[160] Verletzung in Art 9 und Art 14 EMRK.
[161] Hier geht es auch um die Frage des Übergriffs der Legislative durch Einzelfallgesetzgebung, ein Problem, das bereits Alexander Hamilton in Federalist No. 81 im Jahr 1787 erörtert hat.
[162] EGMR 09.12.1994, STRAN Greek Refineries and Stratis Andreadis/GRE, Nr 13.427/87.
[163] Zu der hier nicht weiter zu verfolgenden Grundsatzfrage der wechelseitigen Eingriffe der getrennten Gewalten und der als gering zu erachtenden Gefahr richterlicher Übergriffe siehe grundlegend die sechs Artikel von Alexander Hamiltion (Federalist No. 78 ff) in Ermacora (Hrsg), Der Föderalist von Alexander Hamilton, James Madison und John Jay (1958) 444 ff; Adams/Adams (Hrsg), Die Federalist-Artikel von Hamilton/Madison/Jay (1994) 469 ff; Zehnpfennig, Die Federalist papers (2007) Nr 78—83. Tatsache ist, dass Hamilton bereits vor 233 Jahren statuierte, dass eine gesetzgebende Körperschaft, ohne ihren Machtbereich zu überschreiten, ein Urteil, das in einer bestimmten Rechtssache gefällt wurde, nicht rückgängig machen [kann]; „allerdings kann sie eine neue Norm für künftige Fälle aufstellen“, so Hamilton.
[164] EGMR 14.02.2006, Lecarpentier/FRA, Nr 67.864/01; EGMR 14.01.2007, Anhaueser-Busch Inc./POR, Nr 73.079/01; EGMR 11.02.2010, Sud Parisienne de Construction/FRA, Nr 33.704/04; 16.04.2019, Kamoy Radyo Televizyon/TUR, Nr 19.965/06. Vgl auch EuGH 29.11.2018, Ususfructus/HUN, C-235/17 (usufruits de terres agricoles).
[165] VfSlg 20.177/2017.
[166] Bundesgesetz vom 7. Juli 1988 über die Besteuerung des Einkommens natürlicher Personen (Einkommenssteuergesetz 1988) BGBl 1988/400 idF BGBl I 2020/99.
[167] Bundesgesetz vom 24. Oktober 1967 betreffend den Familienlastenausgleich durch Beihilfen (Familienlastenausgleichsgesetz 1967) BGBl 1967/376 idF BGBl I 2020/109.
[168] Siehe zur vom VfGH als verfassungswidrig erkannten Deckelung der Mindestsicherung VfSlg 20.244/2018; zur Mindestsicherung im Kontext subsidiär Schutzberechtigter (Verstoss gegen Art I RassDiskrBVG) siehe VfSlg 20.177/2017.
[169] Siehe Binder/Steiner, The European Court and Social Rights, in Binder et al (Hrsg), Social Rights under the Case Law of regional Human Rights Monitoring Institutions (2017) 8-19.
[170] Bundesgesetz über die Wahl des Nationalrats (NRWO) BGBl 1992/471 idF BGBl I 2018/32.
[171] Der Verfasser war in den Jahren 1989—95 Univ.-Assistent beim gebürtigen Klagenfurter Felix Ermacora; dies war eine prägende Zeit, in der Ermacora auch -- bis zu seinem Tod am 24. Februar 1995 an der Europäischen Kommission für Menschenrechte und als UN-Beauftragter für Afghanistan im Bereich des Human Rights Monitoring tätig war. Richter am EGMR war damals (1977-1998) der am 19.1.1928 in Bozen geborene, noch immer aktive und als Menschenrechtsexperte wie als Autor bewundernswerte Franz Matscher. Siehe zu Ermacora Schlintner/Strejcek, Felix Ermacora (1923—1995), in: Häberle/Kilian/Wolff (Hg.) Staatsrechtslehrer (2014) Abschnitt LXII, 967 ff. Wir haben unseren biografischen Beitrag unter das Motto von Montesquieu gestellt: „Talent ist etwas, das Gott uns insgeheim gegeben hat und das wir offenbaren, ohne es zu wissen.“ Dieser Satz traf gewiss auch auf Luzius Wildhaber zu, der im Juli 2020 von uns gegangen ist.
[172] Ermacora, Handbuch der der Grundfreiheiten und der Menschenrechte. Ein Kommentar zu den österreichischen Grundrechtsbestimmungen (1963) 55f.