Willkür und Vertretbarkeitskontrolle in der Rechtsprechung der Höchstgerichte - der österreichische Oberste Gerichtshof in Strafsachen

Autor: Dr. Wolfgang Wessely

Die Figur einer Vertretbarkeits- bzw (spiegelbildlich) einer Willkürkontrolle ist aus der Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts nicht wegzudenken.

Im Folgenden soll untersucht werden, ob gleichartige Ideen auch in der Rechtsprechung der österreichischen Strafgerichte, in erster Linie des österreichischen Obersten Gerichtshofs, Niederschlag finden. Sollte sich dies bestätigen, gilt es auszuloten, welche Schlüsse sich aus aktuellen Entscheidungen ziehen bzw auch auf die nationale Rechtsprechung in Liechtenstein übertragen lassen. Im Kern soll herausgearbeitet werden, unter welchen Voraussetzungen eine solche Vertretbarkeitskontrolle überhaupt ausgeübt werden kann/darf und wie man für Betroffene in FL (wieder) Planungssicherheit gewinnt.

Befund

Die Rechtsprechung der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Österreich in Strafsachen weist mehrere Bezugspunkte zu einer Vertretbarkeits- bzw (spiegelbildlich) einer Willkürkontrolle auf. Sie finden ihre Ursache zum Teil im positiven Recht, zum Teil in der Natur der Sache, zum Teil aber auch in einer Selbstbeschränkung der Rechtsmittelgerichte.

Die überwiegende Zahl einschlägiger Entscheidungen steht im Zusammenhang mit den Nichtigkeitsgründen der §§ 281 Abs 1 Z 11 3. Fall bzw 345 Abs 1 Z 13, Fall 3, öStPO, wonach ein Urteil dann mit Nichtigkeit bedroht ist, wenn „in unvertretbarer Weise gegen Bestimmungen über die Strafbemessung verstoßen“ wurde. Angesprochen sind Fälle, in denen gegen zwingende[1] sanktionenrechtliche Bestimmungen verstoßen wird, also eine Ermessensentscheidung im Sanktionsbereich – vergleichbar dem 1. Fall dieser Nichtigkeitsgründe – auf einer groben Verkennung der gesetzlichen Vorgaben beruht[2]. Ist dies der Fall, so handelt das Gericht der Rechtsprechung zur Folge „willkürlich“.[3] Bei dieser „Willkürkontrolle“ ist darauf abzustellen, ob die Bestrafung „vernünftigerweise vorhersehbar“ war und die Auslegung des Rechts nachvollziehbar ist.[4] Ausschlaggebend ist dabei nicht, ob das Ergebnis der Strafzumessung, also die verhängte Sanktion als solche, unvertretbar ist. Vielmehr kommt es auf die Unvereinbarkeit der dabei herangezogenen Kriterien mit den nach dem Gesetz in concreto anzuwenden Strafbemessungsvorschriften an, die sich in einer Überschreitung des Ermessensspielraums äußert[5]. Sonstige „bloße Ermessensfehler“ etwa bei der Gewichtung der Strafzumessungsgründe begründen demgegenüber keine Unvertretbarkeit, sondern können bloß mit Berufung bzw im Einzelrichter- und bezirksgerichtlichen Verfahren mit Berufung wegen Strafe geltend gemacht werden.[6],[7] Erfolgt nämlich die Ermessensausübung innerhalb der gesetzlichen Grenzen, kann sie zwar durch eigenes Ermessen des Rechtsmittelgerichts ersetzt, nicht aber als unrichtig charakterisiert werden.[8]

Gleichermaßen als willkürlich beurteilt die Rechtsprechung Entscheidungen, die ein die Schwelle der Nichtigkeit iSd § 281 Abs 1 Z 5 öStPO erreichendes Begründungsdefizit aufweisen.[9] Angesprochen sind insoweit insbesondere Fälle „grob unvernünftiger Urteils- oder Beschlussannahmen“, was etwa der Fall ist, wenn die Begründung eindeutig unzureichend oder offensichtlich widersprüchlich ist, sie eindeutig einen Irrtum erkennen lässt[10], sie den Gesetzen folgerichtigen Denkens oder grundlegenden Erfahrungssätzen widerspricht[11]  oder ihr eine „unerträgliche Fehlentscheidung bei der Beweiswürdigung“ zugrunde liegt.[12]  Zusammengefasst handelt es sich  um  Fälle  bloßer Scheinbegründungen[13] bzw eines „Missbrauchs der Beweiswürdigungsfreiheit“.[14]

Gleichermaßen auf Überschreitungen des Ermessensspielraums stellt die Rechtsprechung im Zusammenhang mit Prognosebeurteilungen ab. IdS zieht sie sich namentlich im Rahmen der Grundrechtsbeschwerde darauf zurück, ob die Annahme des Vorliegens für die Verhängung oder Verlängerung der Untersuchungshaft erforderlicher Gefahren vertretbarerweise auf jene „bestimmten Tatsachen“ gestützt werden kann, die vom Gericht der Entscheidung zugrunde gelegt wurden.[15] Eine Überschreitung des Ermessensspielraums und damit eine unvertretbare, willkürliche Entscheidung[16], wird nur dann angenommen, wenn sich die Annahme angesichts der zugrunde gelegten bestimmten Tatsachen als willkürlich, mit anderen Worten nicht oder nur offenbar unzureichend begründet darstellt.[17]  Eine ähnliche Selbstbeschränkung  liegt der Rechtsprechung  zur  Überprüfbarkeit  von Einstellungsentscheidungen durch die Staatsanwaltschaft zugrunde.[18]

Entsprechende Entscheidungen finden sich schlussendlich betreffend die Besetzung der Richter-(Geschworenen-)bank, konkret betreffend die Handhabung von Vertretungsfällen. Weicht diese vom gesetzlich determinierten Prinzip der nach dem Zufall zu erfolgenden Besetzung „willkürlich, mithin in sachlich unvertretbarer Weise“ ab,  begründet dies  eine Nichtigkeit nach  §§ 281 Abs 1 Z 1 bzw 345 Abs 1 Z 1 öStPO.[19]

 Schlussfolgerungen

Aus der dargestellten höchstgerichtlichen Rechtsprechung lässt sich ableiten, dass von einer willkürlichen, unvertretbaren Entscheidung dann auszugehen ist, wenn

  • die Entscheidung eine Begründung gänzlich vermissen oder diese erkennen lässt, dass das Gericht seine Entscheidung unter Verletzung zwingender Regeln getroffen und damit seinen Ermessensspielraum überschritten hat;
  • die Begründung, insbesondere die Beweiswürdigung einer formalen Prüfung auf Schlüssigkeit und Nachvollziehbarkeit nicht entspricht;
  • in der Entscheidung unsachliche Kriterien einfließen; die Entscheidung hat daher einer Plausibilitätskontrolle standzuhalten.

Die Rechtsprechung des österreichischen Obersten Gerichtshofs in Strafsachen ähnelt daher im Wesentlichen jenen Judikaturlinien, wie sie die Rechtsprechung der österreichischen Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts prägen. Aufgrund der weitgehend[20] vergleichbaren Rechtslage in Liechtenstein lassen sich die oben dargestellten Judikaturlinien auch auf die Rechtslage in Liechtenstein übertragen.

 

 

[1] Vgl RIS-Justiz RS0099892.
[2] Vgl Ratz in Fuchs/Ratz, WK StPO § 281 (Stand 1.1.2020, rdb.at) Rz 677 mwN.
[3] RIS-Justiz RS0126841 (T2).
[4] RIS-Justiz RS0126841 (T2).
[5] RIS-Justiz RS0101582; RS0099985.
[6] RIS-Justiz RS0114926 (T6).
[7] Ähnlich zur Festsetzung einer Kaution RIS-Justiz RS0126238.
[8] RIS-Justiz RS0121605.
[9] RIS-Justiz RS0132725; RS0119300 (unter Bezugnahme auf das „verfassungsrechtliche Willkürverbot“).
[10] RIS-Justiz RS0129981.
[11] RIS-Justiz RS0110146; RS0098400; RS0099607.
[12] RIS-Justiz RS0126211 (Einstellungsentscheidung durch die Staatsanwaltschaft).
[13] RIS-Justiz RS0098444.
[14] RIS-Justiz RS0116733.
[15] RIS-Justiz RS0117806
[16] RIS-Justiz RS0117806 (T13).
[17] RIS-Justiz RS0117806.
[18] RIS-Justiz RS0126209.
[19] RIS-Justiz RS0121700; RS0121700.
[20] Zu beachten ist freilich, dass § 221 Z 5 liStPO eine § 281 Abs 1 Z 11 3. Fall öStPO vergleichbare Regelung nicht kennt; die Rsp zur Begründungspflicht (§ 220 Z 3 StPO) entspricht hingegen jener in Österreich (vgl StGH 2009/050; 09 ES.2017.21 [hier: unter Berufung auf die Rsp in Österreich).