Zweck und Reichweite der Willkür- und Vertretbarkeitskontrolle des Staatsgerichtshofes
100 Jahre liechtensteinische Verfassung – ihr verdankt das Fürstentum Liechtenstein die frühe Einführung einer Verfassungs- bzw Grundrechtsgerichtsbarkeit. Die Aufgaben des StGH als „Hüter der Verfassung“ sind einerseits mangels präziser Regelungsvorgaben im liechtensteini-schen Recht nicht immer hinreichend klar; was meint etwa die Verfassung, wenn sie dem StGH die Aufgabe des Schutzes der „verfassungsmässig gewährleisteten Rechte“ überträgt?
Andererseits führt auch die nicht immer hinreichend konzise Rechtsprechung des StGH im Grund-rechtsbereich zu schwierigen Abgrenzungsfragen im Vergleich zur liechtensteinischen Fachge-richtsbarkeit. Wann endet die Kompetenz des Fachgerichts, etwa im Bereich des Strafrechts, wann beginn die Kompetenz des StGH als Verfassungsgericht? Diesen und anderen Fragen geht der anschliessende Beitrag nach.
Stichworte: Vertretbarkeitskontrolle, Grundrechte, Individualbeschwerde, Staatsgerichtshof
1. Einleitung – Vom Auftrag der verfassungsgerichtlichen Vertretbarkeitskontrolle
Kommendes Jahr jährt sich das Inkrafttreten der Liechtensteinischen Landesverfassung (am 5. Oktober 1921[1]) zum 100. Mal. Der Verfassung kam Pionierstellung zu, richtete sie doch einen „Staatsgerichtshof“ (StGH) als Verfassungsgericht ein. Die Verfassung unterwarf nicht nur die Gesetzgebung, sondern auch die Vollziehung einschliesslich der Fachgerichtsbarkeit der staatsgerichtlichen Kontrolle[2] (Art 104 LV).[3] Innerhalb der liechtensteinischen Zivil- und Strafgerichtsbarkeit besteht ein dreigliedriger Instanzenzug,[4] während im Bereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit grds ein zweigliedriger Instanzenzug[5] vorgesehen ist; beide Bereiche der Gerichtsbarkeit werden hier als „Fachgerichtsbarkeit“ bezeichnet.[6] Nach Erschöpfung des Instanzenzuges besteht das Recht der Individualbeschwerde (gem Art 15 StGHG) an den StGH. Antragsberechtigt ist jede Person, die denkmöglich behauptet, in ihrer Rechtsposition unmittelbar und nachteilig betroffen zu sein. Der StGH prüft eine behauptete Grundrechtsverletzung,[7] wenn sie in der Beschwerde zumindest implizit gerügt wurde.[8]
Die Landesverfassung unterscheidet innerhalb der liechtensteinischen Gerichtsbarkeit zwei Ebenen. Während die Fachgerichte (LG, OG, OGH bzw Beschwerdekommission für Verwaltungsangelegenheiten;[9] VGH) die Einhaltung der einfachen Gesetze bzw Verordnungen zu überwachen haben, ist der StGH zum Schutz der verfassungsmässig gewährleisteten Rechte berufen (Art 104 Abs 1 LV).
Die Abgrenzung zwischen StGH und anderen Fachgerichten gestaltet sich in der Praxis nicht immer einfach. So ist insb die Auslegung der Begriffe «enderledige, rechtskräftige Entscheidung» oder «Verfügung der öffentlichen Gewalt», also die Frage, gegen welche Entscheidungen einer Verwaltungsbehörde oder eines Gerichtes eine Individualbeschwerde an den StGH in Grundrechtsfragen zulässig ist (Art 15 Abs 1 und 2 StGHG), mitunter schwierig.[10] Dies, weil der Gesetzgeber in den MaterienG nicht immer hinreichend klarstellt, gegen welchen staatlichen Akt der Rechtszug an den StGH zu führen hat bzw wann ein Rechtsakt Gegenstand einer Individualbeschwerde sein kann.
Ebenfalls nicht eindeutig geklärt ist die Rolle des StGH als «Hüter der Grundrechte», wie sie in Art 104 Abs 1 LV formuliert ist: Der StGH soll die «verfassungsmässig gewährleisteten Rechte» schützen. Präzisierende Anordnungen in der Verfassung bzw im StGHG fehlen zum Teil. Aus der Abgrenzung der Art 97 ff LV und des GOG zu Art 102 LV und den Art 90 ff LVG einerseits und Art 104 Abs 1 LV iVm Art 15 StGHG andererseits ergibt sich, dass zwar primär die Fachgerichte das einfache Recht[11] auslegen und anwenden sollen.[12] Diese Abgrenzung ist jedoch nicht so eindeutig, wie sie auf den ersten Blick scheint. Immerhin haben auch die Verwaltungsbehörden und Fachgerichte bei der Anwendung einfachen Rechts die Verfassung und die Grundrechte zu beachten.[13]
Die Systematik der Verfassung und jene des daran anknüpfenden StGHG jedoch lässt keinen Zweifel offen. Der StGH soll erst nach Erschöpfung des Instanzenzuges – nach Erhebung der Individualbeschwerde – tätig werden. Er soll überprüfen, ob die Fachgerichte bei Anwendung des einfachen Rechts die Verfassung und die Grundrechte im Rahmen ihrer Tätigkeit korrekt beachtet haben. Art 104 Abs 1 LV und Art 15 StGHG übertragen dem StGH sohin die Aufgabe einer gerichtlichen Vertretbarkeitskontrolle, die auf die Grobprüfung (Evidenzkontrolle) bestimmter Fragen der Verfassung bzw der internationalen Verträge beschränkt ist. Eine mit der Fachgerichtsbarkeit funktionell vergleichbare Aufgabenzuweisung einer Feinprüfung des einfachen Rechts zugunsten des StGH kann weder der Verfassung noch dem StGHG entnommen werden. Dafür spricht auch der internationale Vergleich, wonach etwa das dt BVerfG oder der ö VfGH in Grundrechtsfragen regelmäßig eine Grobprüfung anhand der Verfassung vornehmen, dh in der Regel nur qualifizierte Verstösse aufgreifen, während die Feinprüfung anhand des einfachen Rechts regelmässig anderen Fachgerichten vorbehalten ist.[14]
Auch nach dem Willen des liechtensteinischen Verfassungsgesetzgebers ist die Aufgabe des StGH darauf fokussiert, im Rahmen des Individualbeschwerdeverfahrens grob (dh im Sinne einer Vertretbarkeitskontrolle) zu prüfen, ob die Fachgerichte in ihren Entscheidungen die Verfassung bzw Grundrechte beachtet haben. Der Verfassungsgesetzgeber hat im Zuge der Verfassungsrevision 2003 keine Adjustierung der Aufgaben des StGH vorgenommen. Dem StGH kommt damit im Vergleich zu den Fachgerichten zwar eine andere Aufgabenstellung zu, die jedoch keine Höherwertigkeit im Sinne einer vierten Gerichtsinstanz implizieren.[15]
Daraus folgt: Die verbindliche Entscheidung über Zweifelsfragen des einfachen Rechts ist für den Zivil- und Strafrechtsbereich dem OGH, für den Bereich des öffentlichen Rechts dem VGH vorbehalten.[16] Das führt zu der Beurteilung, dass die Individualbeschwerde gem Art 15 StGHG nur ein ausserordentlicher Rechtsbehelf, aber kein zusätzliches ordentliches Rechtsmittel darstellt. Sie dient dazu, dass der StGH im Sinn einer Evidenzkontrolle qualifizierte – also schwerwiegende – Fehler bei der Anwendung und Auslegung des einfachen Rechts durch die Fachgerichte, soweit sie die in die Verfassungssphäre reichen, aufgreifen und erforderlichenfalls korrigieren kann.
Der StGH ist sohin nach der Systematik der LV nicht als echte (oder volle) «vierte» bzw «dritte» Gerichtsinstanz eingerichtet: Anders als der OGH oder der VGH hat der StGH ein enderledigendes letztinstanzliches Urteil (eines Zivil- bzw Strafgerichts oder des VGH) nicht umfassend zu überprüfen. Wird der StGH mittels Individualbeschwerde angerufen, hat er im Umfang der geltend gemachten Beschwerdegründe «lediglich grob» zu untersuchen, ob eine letztinstanzliche Entscheidung verfassungsmässig gewährleistete oder durch internationale Übereinkommen garantierte Rechte des Einzelnen verletzt (Art 15 Abs 1 StGHG), oder anders formuliert, ob die fachgerichtlich getroffene Entscheidung (Auslegung des einfachen Rechts) verfassungsrechtlich «vertretbar» ist.
Für diese Auffassung spricht zudem ein historischer Vergleich. Das liechtensteinische System der Verfassungs- und Grundrechtsgerichtsbarkeit ist stark am österreichischen Verfassungsgerichtsmodell des B-VG (als Rezeptionsgrundlage) angelehnt,[17] was für die Auslegung des vierten (Art 27bis ff LV, «Von den allgemeinen Rechten und Pflichten der Landesangehörigen») und des achten Hauptstücks (Art 95 ff LV, «Von den Gerichten») der Verfassung von Bedeutung ist.[18]
Bei allen bestehenden Unterschieden insb im Verfassungsprozessrecht[19] sind die Grundlinien der liechtensteinischen und der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit doch sehr ähnlich. Der ö VfGH ist, wie auch das dt BVerfG, ebenfalls berufen, nur in die Verfassungssphäre reichende qualifizierte Rechtsverletzungen aufzugreifen (Art 144 Abs 1 B-VG), während etwa der ö VwGH für die Prüfung sonstiger Rechtsverletzungen durch die Verwaltung bzw Verwaltungsgerichtsbarkeit berufen ist (Art 133 B-VG).[20] Eine umfassende Tatsachen- und Rechtskontrolle ist dem ö VfGH nicht aufgetragen.[21]
Die Richtigkeit der restriktiven Auslegung der Aufgaben des StGH, wie sie Art 104 Abs 1 LV iVm Art 15 StGHG vorgeben, zeigt sich systematisch gesehen auch daran, dass unter den «verfassungsmässig gewährleisteten Rechten», die der StGH schützen soll, zunächst (nur) die im vierten Hauptstück der LV enthaltenen Grundrechte (Art 27bis-44) zu verstehen sind. Bis heute ist dieser Abschnitt mit der Überschrift «Von den allgemeinen Rechten und Pflichten der Landesangehörigen» übertitelt. Im Zuge der Verfassungsrevision 2003[22] blieb der Grundrechtskatalog des vierten Hauptstücks unverändert. Der Verfassungsgesetzgeber erweiterte den Grundrechtskatalog bis dato nur rudimentär: Änderungen erfolgten ua durch die Verfassungsnovellen LGBl 1992.81 und 2005.267, wobei letztere Novelle auf den Beitritt Liechtensteins zur EMRK 1982 zurückzuführen ist.[23] Somit kann man sowohl in Bezug auf die liechtensteinische Verfassung im Allgemeinen als auch den Grundrechtskatalog des vierten Hauptstücks und die damit verknüpften Aufgaben des StGH (Vertretbarkeitskontrolle) im Besonderen von einer klaren Systemkontinuität sprechen[24] – erhebliche Änderungen im Grundrechtsbestand oder im Aufgabenkatalog des Höchstgerichts sollten nach dem Willen des Verfassungsgesetzgebers 2003 nicht vorgenommen werden.[25] Auch daran zeigt sich, dass der Verfassungsgesetzgeber bislang keine Notwendigkeit sah, die systematisch und materiell klar umrissene Aufgabe des StGH (Vertretbarkeitskontrolle) auszuweiten.
Die im vierten Hauptstück enthaltenen Grundrechte sind seit Inkrafttreten der Landesverfassung 1921 durchgängig als subjektive, gerichtlich durchsetzbare Rechte konzipiert.[26] Entsprechend diesem Verständnis ordnete der Verfassungsgesetzgeber an, dass der StGH die «verfassungsmässig gewährleisteten Rechte», wie sie ua in der LV positiviert sind (und nur diese), zu schützen hat (Art 104 Abs 1 LV; Art 11 Z 1 StGHG 1925[27] – vgl nunmehr Art 15 Abs 1 StGHG[28]).
In Ergänzung dazu stehen jene Rechte, die durch internationale Übereinkommen garantiert werden und für die der Gesetzgeber die Individualbeschwerde ebenfalls anerkannt hat (Art 15 Abs 2 StGHG[29]):
EMRK;
Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte;
Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung;
Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau;
Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe;
Übereinkommen über die Rechte des Kindes.
Von praktischer Bedeutung sind insb die Grundrechte der EMRK, die für Liechtenstein seit 8. September 1982[30] verbindlich sind und für die der Gesetzgeber ab der Nov LGBl 1982.57 zum StGHG 1925 die Möglichkeit der Individualbeschwerde anerkannt hat. Der Konvention wird in Liechtenstein faktischer Verfassungsrang zuerkannt.[31] Auch die Verletzung der in der Konvention statuierten Rechte können mittels Individualbeschwerde an den StGH geltend gemacht werden (Art 1 Abs 2; 15 Abs 2 Bst a StGHG). Somit ergibt zumindest die systematische und historische Auslegung, dass der Prüfmassstab des StGH als «Hüter der Grundrechte» in Relation zu den Fachgerichten klar umrissen und iS einer Vertretbarkeitskontrolle von behaupteten Grundrechtsverletzungen begrenzt ist. Prüfmassstab sind dabei ausschliesslich die in der LV und in Art 15 Abs 2 StGHG verwiesenen Rechte.
Die insoweit historisch und systematisch ermittelbare Aufgabenteilung zwischen Fachgerichten und StGH wird durch verschiedene Umstände relativiert. Einerseits schränkt das StGHG selbst zweifach ein. Das Gesetz statuiert kein Neuerungsverbot, was für den Bereich der Grundrechtsgerichtsbarkeit an sich unüblich ist[32] und dem Sinn und Zweck einer verfassungsgerichtlichen Vertretbarkeitskontrolle zuwiderläuft (auch aus dem gem Art 38 StGHG im Individualbeschwerdeverfahren anzuwendenden LVG ergibt sich nichts Abweichendes).[33] So kann der StGH gem Art 44 Abs 2 StGHG den relevanten Sachverhalt selbst ermitteln,[34] was ihm grds auch im Individualbeschwerdeverfahren die unbeschränkte Kompetenz zur Tatsachenermittlung und damit mittelbar die Möglichkeit einer uneingeschränkten Tatsachenkontrolle über Fachgerichte gewährt.[35] Das überschreitet aber den von der Verfassung vorgegebenen Auftrag einer verfassungsgerichtlichen Evidenzkontrolle (arg „Hüter der Grundrechte“).
Andererseits hat der StGH seine Kompetenz zu eigenen Tatsachenfeststellungen in seiner Willkürrechtsprechung ausdrücklich betont (dazu sogleich im Text).[36] Die Legitimation für eigene Sachverhaltsfeststellungen liege nach Auffassung des StGH darin, dass der Gerichtshof krasse Fehler in der fachgerichtlichen Sachverhaltsfeststellung als Verfassungsverstoss werte. Ist der StGH also der Auffassung, dass Feststellungen eines Fachgerichts willkürlich (und damit unzureichend) sind, erachtet er sich, anders als etwa der OGH, an den fachgerichtlich ermittelten Sachverhalt nicht mehr gebunden. Der StGH kann darauf folgend eigene Beweise erheben und Tatsachenfeststellungen treffen. Damit besteht die latente Gefahr, dass sich der Gerichtshof von seiner eigentlichen Aufgabe der Vertretbarkeitskontrolle in Grundrechtsfragen entfernt und die Position einer «vierten Tatsacheninstanz»[37] einnimmt. Jedoch erscheint fraglich, ob ihm der Verfassungsgesetzgeber diese Rolle wirklich zugedacht hat.[38]
2. Willkürverbot als Auffanggrundrecht
Schwieriger wird die Abgrenzung zwischen Fachgerichten und StGH auch deswegen, weil der StGH eine Individualbeschwerde nicht nur auf die Einhaltung der in der Verfassung oder der in internationalen Verträgen ausdrücklich positivierten (Grund)rechte prüft. Über den Text der Verfassung hinaus vertritt der StGH die Auffassung, dass die liechtensteinische Verfassung auch ungeschriebene Grundrechte enthalte, die dem Einzelnen, abseits der EMRK bzw der Art 27bis ff LV, subjektive verfassungsmässige Rechte vermitteln würden. Besonders relevant sind das Willkürverbot und der umfassende Anspruch auf rechtliches Gehör.[39]
In seinem Grundsatzurteil StGH 1998/45 vom 22. Februar 1999 bekräftigte der Gerichtshof die Bedeutung des staatlichen Willkürverbots, das über den allgemeinen Gleichheitssatz hinausgehe. In dieser richtungsweisenden Entscheidung hatte der StGH eine Stichtagsregelung zu beurteilen, die über die Anwendung des UWG alt oder neu im Einzelfall entschied. Die Beschwerdeführer behaupteten, dass der OGH bei seiner Rechtsanwendung aufgrund grober und qualifizierter Rechtsverletzung und wegen unterlassener Sachverhaltsermittlung gegen das Willkürverbot verstossen habe. Der StGH stellte fest, dass es relevante Unterschiede zwischen Gleichheitssatz und Willkürverbot gebe und das Willkürverbot als ungeschriebenes Grundrecht zu klassifizieren sei. Denn einerseits gehöre das Willkürverbot unzweifelhaft zum unverzichtbaren Grundbestand des Rechtsstaates; andererseits decke es bei aller Überlagerung durch den Schutzbereich des Gleichheitsgrundsatzes gem Art 31 Abs 1 LV doch einen originären Schutzbereich ab. Dem Willkürverbot komme die Funktion eines Auffanggrundrechts zu. Es soll gewissermassen „als letzte Verteidigungslinie des Rechts gegenüber derart offensichtlichem Unrecht dienen, dass in einem modernen Rechtsstaat nicht zu tolerieren ist.“[40]
Bis zu dieser Entscheidung hatte der Gerichtshof einzelne Rechtsschutzgewährleistungen (wie etwa das Verbot der Rechtsverzögerung) unmittelbar aus dem allgemeinen Gleichheitssatz gem Art 31 Abs 1 LV abgeleitet.[41] Mit seinem Urteil StGH 1999/45 initiierte der Gerichtshof eine Judikaturwende und räumte dem Willkürverbot den Status eines ungeschriebenen Grundrechts ein, das vom allgemeinen Gleichheitssatz zu unterscheiden sei.[42] Im Wesentlichen begründete der Gerichtshof seine Auffassung damit, dass die bis dahin aus Art 31 Abs 1 LV abgeleiteten Elemente des Willkürverbotes nicht unmittelbar dem Gleichheitssatz immanent seien.
Nach Auffassung des Gerichtshofes komme dem Willkürverbot die Funktion eines «Auffanggrundrechtes»[43] zu, das eine eigenständige Bedeutung habe, wenn der zu beurteilende Sachverhalt nicht den Anwendungsbereich eines spezifischen (positivierten) Grundrechts berühre. Staatliche Akte sollen im öffentlichen Interesse dennoch einer umfassenden Überprüfung durch den StGH zugeführt werden können. Entsprechend erübrige sich eine zusätzliche Willkürprüfung, wenn eine differenzierte Prüfung eines Aktes im Lichte eines spezifischen Grundrechtes möglich sei.[44] Damit wollte der Gerichtshof offensichtlich noch stärker die Notwendigkeit einer umfassenden gerichtlichen Vertretbarkeitskontrolle, losgelöst vom allgemeinen Gleichheitssatz, betonen.
3. Erste Zweifel…
Betrachtet man den Verfassungstext, bleibt der Leser ratlos zurück. Von einem «allgemeinen Willkürverbot» ist in den Art 27bis ff LV tatsächlich nicht die Rede. Zudem ist die Änderung der Verfassung ausdrücklich von einem qualifizierten Landtagsbeschluss abhängig (Art 112 Abs 2 LV); eine Ausweitung des Grundrechtskatalogs der LV durch Richterspruch des StGH ist nach den Vorgaben der LV nicht zulässig.
Ruft man sich die klar dokumentierte historische und systematische Entwicklung des vierten und des achten Hauptstücks der LV und die verfassungsgesetzlich vorgegebene Aufgabe des StGH – Durchführung einer Vertretbarkeitskontrolle – in Erinnerung, ist die Frage zu stellen, ob die «Kreation» eines ungeschriebenen Grundrechts «Willkürverbot» an sich zulässig und erforderlich war.[45]
Ungeachtet dessen ist anschliessend zu überprüfen, ob es der Entwicklung eines ungeschriebenen Grundrechts überhaupt bedurfte. Die Hinterfragung des Ansatzes des StGH ist auch deswegen geboten, weil das nationale Schrifttum der Auffassung des StGH bislang uneingeschränkt gefolgt ist.
Analysiert man zudem die Rechtsentwicklung und die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung in Österreich (als dem hier relevanten Rezeptionsland), zeigt sich, dass der Schluss des StGH nicht zwingend ist. Die österreichische Rechtspraxis und Lehre hat das Willkürverbot seit jeher unmittelbar aus dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art 2 StGG 1867, Art 7 Abs 1 ö B-VG) abgeleitet.[46]
Daher wird nach einer Analyse der relevanten Rechtsprechung des StGH (seit 1999) die Begründung des StGH für die Entwicklung eines ungeschriebenen Willkürverbots näher erörtert, bevor final geklärt wird, ob ggfalls eine abweichende Auffassung geboten ist.
4. Die einschlägige Rechtsprechung des StGH zum Willkürverbot
4.1. Wesentliche Eckpfeiler der Judikatur des StGH
Der StGH lässt in seiner Rsp erkennen, dass ein Verstoss gegen das ungeschriebene Willkürverbot vorliegt, wenn eine Behörde oder ein Gericht durch Anwendung und Auslegung eines Gesetzes oder einer Verordnung eine Person krass ungerecht behandeln. Dies bedeutet, ein Verstoss gegen das Willkürverbot liegt vor, wenn ein Recht, das dem Einzelnen durch die Verfassung oder Internationale Verträge eingeräumt ist, qualifiziert verletzt wurde.[47]
Willkür liegt allerdings nicht schon dann vor, wenn der StGH eine unterinstanzliche Entscheidung als «unrichtig» qualifiziert. Die Verfassungsmässigkeit der Entscheidung ist gewahrt, wenn sich die Entscheidung auf vertretbare Gründe stützt. «Wenn allerdings eine Entscheidung sachlich nicht zu begründen, nicht vertretbar bzw. stossend ist, liegt Willkür vor».[48]
Vogt hat in seiner Studie zum Willkürverbot anhand der Rsp des StGH verschiedene Fallgruppen von Willkür systematisiert, die im Anschluss erörtert werden.[49]
i) Fehler bei Lösung der Tatfrage
Dieser liegt vor, wenn das Gericht unzureichende Sachverhaltsdarstellungen getroffen hat, Sachverhaltsdarstellungen ohne Deckung durch Beweisaufnahmen vorgenommen wurden, ferner, wenn das Gericht den Akteninhalt krass unrichtig übernommen oder eine offensichtlich unhaltbare Beweiswürdigung vorgenommen hat. Letzteres liegt vor, wenn das Gericht nach korrekter Beweisaufnahme deren Ergebnisse krass falsch gewichtet. Diese Fehler verstossen gegen das Willkürverbot, wenn sie entscheidungswesentlich, dh massgebenden Einfluss auf das Urteil des entscheidenden Fachgerichtes hatten.
Da das StGHG für Individualbeschwerdeverfahren kein Neuerungsverbot statuiert[50] – was dem Sinn und Zweck einer verfassungsgerichtlichen Vertretbarkeitskontrolle, wie sie durch Art 104 LV und Art 15 StGHG an sich statuiert wird, widerspricht –, kann der StGH zur Beurteilung der Frage, ob ein Gericht eine korrekte Tatsachenfeststellung vorgenommen hat, auch ergänzende Sachverhaltsfeststellungen treffen und weitere Beweise aufnehmen.
ii) Fehler bei Lösung der Rechtsfrage
Dieser Fehler liegt vor, wenn das Gericht eine Norm angewendet hat, die es eigentlich nicht anzuwendend hatte, oder eine Norm, die es hätte anwenden sollen, nicht angewendet hat. Dem gleichzuhalten ist, wenn das Gericht eine anzuwendende Norm qualifiziert unrichtig ausgelegt hat oder ihm krasse Ermessensfehler vorzuwerfen sind. Letzteres liegt vor, wenn das Gericht dem vom Gesetz eingeräumten Ermessensrahmen überschreitet oder das Ermessen in missbräuchlicher Weise ausübt.
iii) Fehler in der Entscheidungsbegründung
Davon zu trennen sind Fehler in der Entscheidungsbegründung. Die Entscheidungsbegründung muss nach Auffassung des StGH inhaltlich richtig oder zumindest vertretbar sein, weswegen krasse Fehler bei der Entscheidungsbegründung, so auch eine abwegige rechtliche Begründung, einen Verstoss gegen das Willkürverbot darstellen.
iv) Verletzung tragender Rechtsgrundsätze
Eine eigenständige Kategorie stellen in der Rechtsprechung die Verletzung „tragender Rechtsgrundsätze“ dar. Was exakt darunter fällt, ist unklar. Der StGH spricht von «unselbständigen Verfassungsprinzipien» und behandelt sie nur, soweit sie im Zusammenhang mit dem Willkürverbot gerügt werden. Als Verstoss gegen das Willkürverbot wertet das StGH etwa krasse Verstösse gegen den Unmittelbarkeitsrundsatz, den Grundsatz «in dubio pro reo», das Legalitätsprinzip, den Verhältnismässigkeitsgrundsatz und den Grundsatz der formellen und materiellen Rechtskraft von Entscheidungen.
4.2. Ausgewählte Entscheidungen zum Willkürverbot
i. Am Beginn stand StGH 1995/28. Darin führte der Gerichtshof aus: «Es ist nicht die Aufgabe des StGH, als vierte Sach- oder Rechtsinstanz in Zivilsachen zu fungieren. Im Gegensatz zum österreichischen Verfassungsgerichtshof hat der StGH aber doch gemäss Art 23 StGHG die Aufgabe, sämtliche mit Verfassungsbeschwerde angefochtenen Endentscheidungen — also nicht nur Entscheidungen der Verwaltungsbeschwerdeinstanz, sondern auch diejenigen des OGH — auf ihre Verfassungsmässigkeit zu überprüfen und allenfalls zu kassieren.
Zu den vom StGH zu prüfenden Grundrechtsverletzungen gehören auch Verstösse gegen das in Art 31 LV verankerte Willkürverbot. Auch wenn kein spezifisches Grundrecht betroffen ist, hat der StGH auf entsprechenden Antrag zu prüfen, ob eine Verletzung des Willkürverbots vorliegt. Willkür liegt aber nicht schon dann vor, wenn der StGH eine Entscheidung als unrichtig qualifiziert. Die Verfassungsmässigkeit ist vielmehr gewahrt, wenn sich die Entscheidung auf vertretbare Gründe stützt. Wenn allerdings eine sachliche Begründung fehlt, wenn die Entscheidung nicht vertretbar und somit stossend ist, liegt Willkür vor. Das Willkürverbot hat demnach die Funktion eines Auffanggrundrechtes: Es soll gewissermassen als letzte Verteidigungslinie des Rechts gegenüber derart offensichtlichem Unrecht dienen, dass es in einem modernen Rechtsstaat nicht zu tolerieren ist. Wann die Grenze zwischen einer in einem Rechtsstaat gerade noch vertretbaren und einer qualifiziert falschen Entscheidung überschritten ist, ist vom StGH im Einzelfall abzuwägen und nachvollziehbar zu begründen – letzteres jedenfalls solange, als der Gesetzgeber dem StGH nicht die Möglichkeit einräumt, offensichtlich unbegründeten Verfassungsbeschwerden ohne nähere Begründung keine Folge zu geben. Nach der geltenden gesetzlichen Regelung hat der StGH indessen bei jeder Willkürbeschwerde die vorgebrachten Argumente des Beschwerdeführers grundsätzlich nicht anders als eine vierte Rechts- oder allenfalls sogar Sachinstanz genau zu prüfen – auch wenn die vom StGH aus dieser Anglvse zu ziehenden rechtlichen Folgerungen grundsätzlich andere sind als bei einer ordentlichen Gerichtsinstanz. Eine von vornherein eingeschränkte Prüfung von Willkürbeschwerden würde dagegen eine Rechtsverweigerung darstellen.»
Was sich an dieser grundlegenden Entscheidung zeigt, ist, dass der Gerichtshof schon vor 25 Jahren zutreffend argumentierte, dass er nach der lex lata dazu verpflichtet ist, jeder Verfassungsbeschwerde (nunmehr Individualbeschwerde) nachzugehen und daher eine höchstgerichtliche Entscheidung des OGH zu erörtern habe[51].[52] Von der Pflicht zu einer detaillierten Überprüfung einer fachgerichtlichen Entscheidung kann dem StGHG aber nichts entnommen werden.
ii) Danach folgte StGH 1998/44, in welcher der StGH seine in StGH 1995/28 eingenommene Position bestätigte. In Erw 4 seines Urteils führte das Höchstgericht aus: «Der StGH hat in der erwähnten StGH-E 1995/28 in diesem Zusammenhang auch ausgeführt, dass er bei jeder Willkürbeschwerde die vorgebrachten Argumente des Bf grundsätzlich nicht anders als eine vierte Rechts- oder allenfalls sogar Sachinstanz genau zu prüfen hat — auch wenn die vom StGH aus dieser Analyse zu ziehenden rechtlichen Folgerungen grundsätzlich andere als bei einer ordentlichen Gerichtsinstanz sind.»
iii) Im Anschluss veröffentlichte der StGH seine nachfolgend separat zu würdigende Grundsatzentscheidung StGH 1999/45. Davon ausgehend entwickelte der Gerichtshof im Bereich des Willkürverbots zwei verschiedene Judikaturlinien, in denen er einmal die Stellung als «vierte Gerichtsinstanz» ausdrücklich ablehnte und sich damit seiner Stellung als Verfassungsgericht besann, dem ein eingeschränkter Prüfauftrag in Grundrechtsfragen (Vertretbarkeitskontrolle) zukommt. Die zweite Judikaturlinie umfasst ausgewählte Entscheidungen, in denen der Gerichtshof hingegen als «vierte Gerichtsinstanz» agierte und sich von dem ihm eigentlich gesetzlich übertragenen Auftrag als Verfassungsgericht, das eine eingeschränkte Vertretbarkeitskontrolle aus der Perspektive des Grundrechtsschutzes wahrnehmen soll (Art 15 StGHG; Art 104 Abs 1 LV), entfernte.
4.2.1. Erste Judikaturlinie: Ablehnung der Rolle der «vierten Gerichtsinstanz»
i) In StGH 2010/29 führte der StGH zB aus (Erw 3): «Bevor auf die einzelnen Rügen eingetreten wird, soll zunächst auf die Frage des Umfangs der Prüfungsbefugnis des Staatsgerichtshofes und auf das Anfechtungsobjekt eingegangen werden. Was zunächst die Kognition des Staatsgerichtshofes angeht, ist zu beachten, dass der Verwaltungsgerichtshof auf dem Gebiet des Steuerrechts das letztinstanzliche innerstaatliche Fachgericht darstellt. Der Staatsgerichtshof setzt, soweit es um die Anwendung der Steuergesetzgebung durch den Verwaltungsgerichtshof geht und hier Auslegungsspielräume bestehen, nicht seine Wertungen an die Stelle des letztinstanzlichen innerstaatlichen Fachgerichts. Das bedeutet beispielsweise hinsichtlich der im vorliegenden Fall materiell entscheidenden Frage, ob es sich bei der Inanspruchnahme der Flugleistungen durch den wirtschaftlich Berechtigten, A, wie der Verwaltungsgerichtshof schliesst, um ‚Nichtumsätze‘ nach Mehrwertsteuerrecht oder um echten Leistungsaustausch handelt, dass der Staatsgerichtshof nicht eingreift, wenn die Auffassung des Fachgerichts durch rechtlich gewichtige sachliche Gründe nahegelegt wird.»
ii) In StGH 2010/57 führte der StGH aus: «Bevor auf die einzelnen Rügen eingegangen wird, ist darauf hinzuweisen, dass der Staatsgerichtshof keine vierte Instanz ist (StGH 2008/82, Erw. 2). Der Verwaltungsgerichtshof ist in Fragen des Bau- und Umweltrechts das höchste Fachgericht. […] Was die Kognition des Staatsgerichtshofes betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass dieser die Auslegung des einfachen Gesetzesrechtes durch das höchste Fachgericht nur unter dem groben Willkürraster überprüft. Der Staatsgerichtshof setzt also, soweit es um die Anwendung des Bau- und Planungsrechts durch den Verwaltungsgerichtshof geht und hier Auslegungsspielräume bestehen, seine Wertungen nicht an die Stelle des letztinstanzlichen Fachgerichts (vgl. zu dieser Praxis StGH 2010/29).»[53]
iii) In StGH 2010/108 setzte sich der Beschwerdegegner mit dem Argument zur Wehr, dass der StGH keine vierte Instanz und seine Kognitionsbefugnis auf Grundrechtsfragen beschränkt sei. Er könne Sach- und Rechtsfragen, wie sie sich den ordentlichen Gerichten stellten, nicht noch einmal prüfen, sondern habe die Resultate dieser Prüfung der Gerichte auf ihre Verfassungsmässigkeit hin zu untersuchen (Verweis auf StGH 2003/89, Erw 3; StGH 1999/12, Erw 2).
Dieser Auffassung hält der StGH in der zit Entscheidung nichts entgegen. Nach der oberflächlichen Prüfung des durch die OGH aufgenommenen Sachverhalts und dessen Begründung stellt der StGH kurz und bündig, ohne weitere Erläuterung, fest, dass die rechtliche Beurteilung des OGH nicht willkürlich erfolgt sei. In seiner Begründung beschränkt sich der StGH auf eine oberflächliche Prüfung der angefochtenen Entscheidung, bspw vergleicht er nicht verschiedene Literatur- oder Gesetzesstellen, legt nicht selbst Normen aus und setzt sich auch sonst nicht mit der Subsumtion des OGH näher auseinander.
iv) In StGH 2011/8 ist zu lesen: «Ebenso hält der Staatsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung fest, dass das Individualbeschwerdeverfahren keine zusätzliche Sach- und Rechtsinstanz eröffnet. Der Staatsgerichtshof ist keine vierte Instanz. Seine Kognition ist auf die Grundrechtsfragen beschränkt. Er hat die Sach- und Rechtsfragen, wie sie sich den ordentlichen Gerichten stellten, nicht noch einmal zu prüfen, sondern hat die Resultate dieser Prüfung der Gerichte auf ihre Verfassungsmässigkeit hin zu untersuchen (siehe u.a. StGH 2003/89, Erw 3; StGH 1999/12, Erw. 2).»
In der Entscheidung hatte sich der StGH, anders als in StGH 2010/108, intensiv mit der rechtlichen Begründung des OGH und anderen rechtlichen Aspekten auseinandergesetzt, um dann die Entscheidung des OGH zu bestätigen.
v) In StGH 2011/14, Erw 3 wird festgehalten: «Bevor auf die einzelnen Rügen eingegangen wird, soweit sie sich überhaupt konkretisieren lassen, ist darauf hinzuweisen, dass der Staatsgerichtshof keine vierte Instanz ist (…; StGH 2008/82, Erw. 2). (…)
Die Beschwerdegegner weisen in ihren Gegenäusserungen zu Recht auch darauf hin, dass mit der vorliegenden Beschwerde der Staatsgerichtshof als eine solche vierte Instanz angerufen werden soll. Würde der Staatsgerichtshof diesem Begehren nachkommen, würde er seine Funktion, als ‚Hüter der Verfassung‘ bzw. ‚Hüter der Grundrechte‘ zu sein (…), in Frage stellen. Der Staatsgerichtshof setzt sich daher lediglich insoweit mit den Beschwerdeausführungen auseinander, als das Vorbringen für die Prüfung der behaupteten Grundrechtsverletzungen, insbesondere des Willkürverbots, relevant ist. (…) Diesen rechtlichen Erwägungen des Obersten Gerichtshofs hält der Beschwerdeführer in seinen weit ausholenden Ausführungen keine rechtlichen Argumente entgegen. Auch der Staatsgerichtshof sieht keinen Anlass, eine andere Position einzunehmen.»
vi) StGH 2013/174 Erw 3.6. führt kurz und prägnant aus: «Des Weiteren ist vorliegend generell zu berücksichtigen, dass der Staatsgerichtshof grundsätzlich keine vierte Instanz, d. h. weder eine Oberrevisions- noch Obertatsacheninstanz ist. Der Staatsgerichtshof überprüft daher im Rahmen der Willkürrüge die Auslegung und Anwendung des Gesetzesrechts nur im Hinblick darauf ob der Oberste Gerichtshof das Gesetz unsachlich oder grob verfehlt angewendet hat (...).» Eine detaillierte Auseinandersetzung mit der angefochtenen Entscheidung des OGH findet nicht statt. Der StGH begnügt sich mit dem knappen Hinweis, dass der OGH sachlich nachvollziehbar und schlüssig bzw vertretbar sowie ausführlich begründet entschieden habe.
vii) StGH 2014/3 hält fest: «Wie der Staatsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung immer wieder festhält, eröffnet das Individualbeschwerdeverfahren keine zusätzliche Sach- und Rechtsinstanz. Der Staatsgerichtshof ist keine vierte Instanz. Seine Kognition ist auf Grundrechtsfragen beschränkt. Er hat die Sach- und Rechtsfragen, wie sie sich den ordentlichen Gerichten stellten, nicht noch einmal zu prüfen, sondern hat die Resultate dieser Prüfung der Gerichte auf [i]hre Verfassungsmässigkeit hin zu untersuchen (StGH 2011/8, Erw 2.4.).»[54]
viii) StGH 2018/121, Erw 8.4. führt aus: «Richtig hingegen ist, dass der Oberste Gerichtshof in der Anwendung der Mehrwertsteuergesetzgebung fälschlicherweise der Beschwerdegegnerin als im Mehrwertsteuerausland wohnhaft eine inländische Mehrwertsteuer in Höhe von 7,7 % bzw. von CHF 185.95 zugesprochen hat. Hier liegt eine falsche Anwendung des MWSTG vor, da nach Art. 18 Abs. 1 MWSTG nur die im Inland erbrachte Leistung der Mehrwertsteuer unterliegt und die betreffende Leistung jedoch als ins ‚Ausland erbracht‘ anzusehen ist. Willkür gilt als qualifizierte Rechtswidrigkeit. Die falsche Rechtsanwendung muss zu einem stossenden Ergebnis führen bzw. eine krasse Ungerechtigkeit zu Folge haben (…). Damit Willkür angenommen werden kann, muss eine qualifizierte Rechtsverletzung vorliegen. Der dem Obersten Gerichtshof unterlaufene Fehler stellt eine solche Rechtsverletzung dar, weshalb der Individualbeschwerde in diesem Punkt (Kostenspruch) spruchgemäss Folge zu geben ist und zur Aufhebung des Kostenspruches führt.»
viii) Zwischenresümee: Die angesprochenen Leitlinien finden sich in den folgenden Jahren wiederholt (leicht modifiziert) in der Rsp des StGH. Eine einheitliche Prüf- und Entscheidungspraxis kann der Willkürrechtsprechung des StGH in den Jahren 2010-2020 jedoch nicht entnommen werden. Einmal werden Entscheidungen der Fachgerichte detailliert geprüft, einmal wiederum nur kursorisch analysiert. Auffällig ist jedoch, dass der StGH seine Rolle als Verfassungsgericht („Hüter der Grundrechte“) und seine Aufgabe der grundrechtlich geprägten Vertretbarkeitskontrolle in einer Vielzahl von Entscheidungen betont.[55]
4.2.2. Der StGH als „vierte Gerichtsinstanz“?
Demgegenüber finden sich innerhalb der „zweiten Rechtsprechungslinie“ vereinzelt Entscheidungen, wo der Gerichtshof im Rahmen seiner Willkürrechtsprechung scheinbar die Position als „vierte Gerichtsinstanz“ einnimmt. Darin beurteilt der StGH fachgerichtliche Entscheidungen nicht nur auf ihre verfassungsrechtliche Vertretbarkeit, sondern setzt seine eigene Auffassung und Beurteilung an die Stelle der Meinung oder neben die Auffassung der Fachgerichte.
i) Exemplarisch zeigt sich dies in der Entscheidung StGH 1998/44. In einem arbeitsrechtlichen Prozess hatte ein künstlerischer Geschäftsführer die Zahlung von fünf ausstehenden Gehältern verlangt. Das Landgericht hatte dem Kläger zunächst 3/5 seiner Forderung zugesichert. Beide Parteien erhoben Berufung. Das Obergericht gab der Berufung des Klägers Folge und entschied, dass die volle Höhe des geforderten Betrages zuzüglich Verfahrenskosten durch den Beklagten zu zahlen sei. Der Beklagte erhob schliesslich Revision an den OGH, welcher dieser teilweise Folge gab und bestimmte, dass die Entscheidung der ersten Instanz vollumfänglich wiederhergestellt werden sollte. Der Kläger erhob daraufhin Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung der Rechte auf ordentlichen Richter, Beschwerdeführung, rechtliches Gehör, Verletzung des Willkürverbots etc. Der StGH gab der Beschwerde Folge und verwies die Beschwerdesache unter Bindung an seine Rechtsansicht an den OGH zurück, da dieser das Recht auf minimale Begründung gem Art 43 LV und das Willkürverbot verletzt habe.
In der Sache hatte der StGH bemängelt, dass der OGH von den klaren Feststellungen des OG abgewichen sei und die oberstgerichtliche Auslegung eines internen Reglements als Hauptpunkt des Direktionsvertrages aus rechtlicher Sicht nicht haltbar sei. Es sei unhaltbar, dass der OGH gerade auf diese entscheidungswesentlichen Tatsachen mit keinem Wort eingegangen sei. Abschliessend erschien dem StGH noch der Hinweis angezeigt, dass die Qualifizierung einer Gerichtsentscheidung durch den StGH als willkürlich noch nicht bedeute, dass er damit gewissermassen das Abgleiten des Rechtsstaates in einen Unrechtsstaat abgewendet hätte. Selbst in einem funktionierenden Rechtsstaat wie dem Liechtensteins «gab es in der Vergangenheit und wird es auch in Zukunft immer wieder Urteile geben — von fähigen Richtern, die durchaus gewissenhaft ihre in aller Regel auch qualitativ gute Arbeit leisten —, die vom StGH als willkürlich angesehen werden. Im Gegensatz zu den Anfängen der Willkürrechtsprechung ist auch in Liechtenstein längst anerkannt, dass die Qualifizierung einer E als ‚willkürlich‘ keineswegs den Vorwurf beinhaltet, die entscheidende Behörde habe sich bewusst und gewissermassen ‚böswillig‘ über klares Recht hinweggesetzt […] Folglich darf man annehmen, dass all jene Behörden, welche früher oder später mitansehen müssen, dass eine ihrer E als willkürlich qualifiziert wird, die Angelegenheit mit philosophischer Gelassenheit zur Kenntnis nehmen; und dass die von ihrer E Betroffenen darin nicht den schlüssigen Beweis dafür sehen, dass sie Tyrannen unterworfen seien, welche es umgehend zu stürzen gelte.»
Der StGH verwies diesbezüglich auf StGH 1995/28 und führte aus, «dass er bei jeder Willkürbeschwerde die vorgebrachten Argumente des Bf grundsätzlich nicht anders als eine vierte Rechts- oder allenfalls sogar Sachinstanz genau zu prüfen hat — auch wenn die vom StGH aus dieser Analyse zu ziehenden rechtlichen Folgerungen grundsätzlich andere als bei einer ordentlichen Gerichtsinstanz sind. (…)
Eine offensichtlich unhaltbare Beweiswürdigung oder krasse Aktenwidrigkeit hält vor dem Willkürverbot ebenso wenig stand wie die abwegige rechtliche Begründung einer Entscheidung. Einer Willkürprüfung zugänglich sind auch Verstösse gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz unter dem Blickwinkel krass unrichtiger, durch keinerlei Beweisaufnahme abgedeckter Sachverhaltsfeststellungen.»
ii) Ausserdem sei auf StGH 2002/2 verwiesen. In einem Verfahren vor dem Landgericht hatte sich der Beschwerdeführer geweigert, als Zeuge die Frage, ob der im Verfahren Beklagte etwas mit einer bestimmten Stiftung zu tun gehabt hatte, zu beantworten. Daraufhin wurde gegen den Beschwerdeführer eine Geldstrafe verhängt, wogegen er Rekurs an das Obergericht erhob, welches diesem jedoch keine Folge gab. Dagegen brachte der Bf eine Verfassungsbeschwerde beim StGH ein. Dieser gab der Beschwerde Folge und stellte fest: Die Heranziehung von Art 7 TrHG aF als Auslegungshilfe zu Art 11 TrHG sowie daran anknüpfende Einschränkung des Geltungsbereichs von Art 11 TrHG[56] sei fehl am Platz und würde gegen das Willkürverbot verstossen.
iii) StGH 2013/65 lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Beschwerdeführerin klagte ihre Gegnerin auf Zahlung eines Geldbetrags. Das Landgericht wies dieses Klagebegehren ab, da in der Stiftungsurkunde der Zweck der Stiftung ungenügend umschrieben sei. Dagegen erhob die Beschwerdeführerin Beschwerde, welcher das Obergericht Folge gab, weil die Frage des hinreichend umschriebenen Stiftungszwecks hätte erörtert werden müssen und auch die rechtliche Beurteilung falsch sei. Der OGH gab dem anschliessenden Revisionsrekurs der Beschwerdegegnerin Folge und bestätige die Ansicht des Landgerichts, worauf die Beschwerdeführerin wiederum Beschwerde an den StGH erhob. Nach eingehenden rechtlichen Erläuterungen, die sich auf den (verfassungsrechtlich nicht normierten) Vertrauensgrundsatz bezogen, gab der StGH der Beschwerde Folge, stellte eine Verletzung verfassungsmässig gewährleisteter Rechte (konkret des Grundsatzes von Treu und Glauben) fest und erklärte: «Diese gerichtlichen Erkenntnisse zeigen, dass trotz entgegenstehender Rechtslage eine Partei in ihrem Vertrauen zu schützen ist, wenn die Voraussetzungen hierfür gegeben sind. Die neue Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes kann erst für zukünftige Fälle Geltung haben. Der Grundsatz von Treu und Glauben steht einer Anwendung dieser Rechtsprechung auf bisherige Fälle entgegen. In diesem Sinne ist das Grundbuch- und Öffentlichkeitsregisteramt aufgefordert, künftig nur noch Hinterlegungen vorzunehmen und Amtsbestätigungen für Stiftungen auszustellen, wenn die entsprechenden Voraussetzungen im Sinne der neuen Rechtsprechung gegeben sind»
iv) In StGH 2018/39 hatte der Gerichtshof die Frage einer Stipendienrückforderung zu beurteilen. Die Stipendienstelle hatte dem Beschwerdeführer ein Stipendium für eine Ausbildung in London gewährt. Die Stelle forderte nach Ende der Ausbildung einen Ausbildungsnachweis ein und wies darauf hin, dass die Aufforderung verbindlich sei und eine endgültige Rückforderung der Ausbildungsbeihilfe nach sich ziehe, sollte der Beschwerdeführer den Ausbildungsnachweis nicht fristgerecht vorlegen. Der Beschwerdeführer missachtete diese Aufforderung und wurde daher zur Rückzahlung der Beihilfe verpflichtet. Dagegen erhob der Beschwerdeführer Beschwerde an die Verwaltungsbeschwerdekommission, welche der Beschwerde keine Folge gab. Auch der daraufhin angerufene VGH wies die Verwaltungsbeschwerde zurück und bestätigte die angefochtene Entscheidung, worauf der Beschwerdeführer Individualbeschwerde erhob. Dieser gab der StGH Folge.
Im konkreten Fall erachtete der StGH die Auslegung des VGH von Art 29 Abs 1 Bst b StipG als nicht vertretbar. Art 29 Abs 1 Bst b StipG enthalte keine explizite Unterscheidung zwischen Fällen, in denen der geforderte Ausbildungsnachweis gar nicht erbracht wird und anderen Fällen, in denen ein Nachweis zwar nach Ablauf der angesetzten Frist, jedoch noch während des laufenden Verfahrens erbracht wird. Für letztere Fallkonstellation — wie der vorliegenden – erachtet der StGH eine differenzierte und nicht zu formalistische Anwendung von Art 29 Abs 1 Bst b StipG als geboten und mit dem Gesetzeszweck vereinbar. Nach Ansicht des StGH liege es entgegen der Ansicht des VGH im Rahmen von Art 29 Abs 1 Bst b StipG, das Verwaltungsermessen in solcher Weise auszuüben, dass dem Einzelfall genügend und in billiger Weise Rechnung getragen werden kann. Wird der geforderte Ausbildungsnachweis gemäss Art 27 Abs 1 StipG wie im vorliegenden Fall, zwar verspätet, jedoch noch während des laufenden Beschwerdeverfahrens erbracht, so erweist sich die Rechtsfolge der Stipendienrückerstattung, auch unter Beachtung des Gehörsanspruchs des Beschwerdeführers und des fehlenden Novenverbots (Art 99 LVG), im konkreten Fall als klar unverhältnismässige und damit als willkürliche Rechtsanwendung.
v) In StGH 2018/12, Erw 3.2. f, hatte der Gerichtshof die Auslegung des Obergerichts zu einer Übergangsbestimmung (LGBl 2016.161) zu beurteilen. Hier führte der Gerichtshof nach eingehender Prüfung des Urteils des Obergerichts aus: «Das Obergericht vertritt in der angefochtenen Entscheidung nun die Auffassung, es seien nach den Übergangsbestimmungen zu LGBl. 2016 Nr. 161 die neuen Bestimmungen in jenen Fällen nicht anzuwenden, in denen vor ihrem Inkrafttreten ‚das Urteil erster Instanz‘ gefällt worden sei. Allerdings würden diese Übergangsbestimmungen nicht den hier vorliegenden Fall der Vollstreckung einer ausländischen Einziehungsentscheidung auf der Grundlage der aktuellen Rechtshilfebestimmungen betreffen. Die Übergangsbestimmungen zu LGBl. 2016 Nr. 161 wären in einem hier nicht vorliegenden Inlandsstrafverfahren anzuwenden, wenn die bis 1. Juni 2016 in Geltung gestandenen Verfallsbestimmungen Bestandteil eines inländischen Verfallsurteils geworden wären. Dieser Fall sei hier nicht gegeben.
Das Obergericht versteht die gegenständliche Übergangsregelung also dahingehend, dass sich diese nur auf Urteile bezieht, die in einem inländischen Strafverfahren ergangen sind. Es ist aufgrund des Wortlautes nicht eindeutig, welche Urteile der Gesetzgeber mit der fraglichen Übergangsbestimmung im Blick hatte. Für die Argumentation des Obergerichts, wonach der Gesetzgeber diesbezüglich lediglich an inländische Urteile gedacht habe, spricht die Formulierung im zweiten Satz, wo es heisst, dass nach Aufhebung eines solchen Urteils in Folge eines ordentlichen Rechtsmittels oder eines anderen Rechtsbehelfs im Sinne der §§ 1 und 61 StGB vorzugehen sei. Werden 1. Satz und 2. Satz der Übergangsbestimmung III. als Einheit gelesen, so wird klar, dass bei der Vollstreckung eines ausländischen Urteiles im Rechtshilfeweg dieser Übergangsbestimmung keine Bedeutung zukommt. Denn die Voraussetzung, dass die Entscheidung eines ausländischen Gerichtes überhaupt vollstreckt werden kann, mit der eine vermögensrechtliche Anordnung ausgesprochen worden ist, besteht zunächst darin, dass diese ausländische Entscheidung «rechtskräftig ausgesprochen worden ist» (Art. 64 Abs. 1 RHG). Die Übergangsbestimmung spricht davon, dass das «Urteil erster Instanz» infolge eines ordentlichen Rechtsmittels oder eines anderen Rechtsbehelfs aufgehoben werden könnte. Dies kommt bei rechtskräftigen (ausländischen) Urteilen – bis auf den seltenen Fall einer Wiederaufnahme – nicht in Betracht. Hingegen passt diese Regelung auf inländische noch nicht rechtskräftige Urteile. Letztere können durch ein Rechtsmittel oder einen Rechtsbehelf aufgehoben werden, sodass für die Anwendung der Übergangsbestimmung ein eigener Anwendungsbereich verbleibt. Werden die beiden Sätze der Übergangsbestimmung gemeinsam gelesen, kann daher – im Einklang mit dem Obergericht – vertretbar gesagt werden, dass die gegenständliche Übergangsbestimmung lediglich auf inländische Urteile anzuwenden ist.
Hinzu kommt noch Folgendes: Der 1. Satz der Übergangsbestimmung III des Gesetzes vom 3. März 2016, LGBl. 2016 Nr. 161, spricht davon, dass die durch dieses Gesetz geänderten Strafbestimmungen in Strafsachen nicht anzuwenden seien, in denen vor ihrem Inkrafttreten das Urteil erster Instanz gefällt worden sei. Daraus könnte abgeleitet werden, dass die Übergangsbestimmung lediglich für die ‚geänderten Strafbestimmungen in Strafsachen‘ gelten sollen. Die gegenständlich anzuwendenden Verfallsbestimmungen stellen demgegenüber jedenfalls keine Strafbestimmung dar. So hatte der Staatsgerichtshof in StGH 2017/023, Erw. 3.14 wie folgt ausgeführt: ‚Die Erwägungen im BuA Nr. 94/2015, das Erkenntnis des Österreichischen Verfassungsgerichtshofes zur vergleichbaren Verfallsregelung sowie die bisherige Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes stützen die vom Obergericht vorgenommene Qualifikation des Verfalls nach § 20 Abs. 1 StGB als ‚zivilrechtliche Massnahme‘ bzw. das Verneinen eines pönalen Charakters des Verfalls. Für den Staatsgerichtshof besteht daher kein Anlass, von dieser Qualifikation der des Verfalls und des Wertersatzverfalls abzugehen und seine bisherige Rechtsprechung zur Qualifikation des Verfalls als eine ‚zivilrechtliche Anordnung ohne pönalen Charakter‘ zu ändern. Damit stellt auch der aufgrund der Strafrechtsnovelle LGBl. 2016 Nr. 161 neu geregelte Verfall und insbesondere der Wertersatzverfall nach § 20 Abs. 3 StGB keine Strafe gemäss Art. 33 Abs. 2 LV dar, so dass der Verfall nach § 20 Abs. 3 StGB dem Rückwirkungsverbot gemäss nach Art. 33 Abs. 2 LV bzw. Art. 7 Abs. 1 EMRK und den dazu in den §§ 1 und 61 StGB geregelten Rückwirkungsverboten nicht untersteht. Der Verfall wurde nicht als Strafe oder strafrechtliche Massnahme im Sinne von Art. 33 Abs. 2 LV bzw. Art. 7 EMRK konzipiert, sondern er stellt eine vermögensrechtliche Anordnung sui generis dar. Da der Verfall nicht als Strafe zu qualifizieren ist, findet somit auch das Günstigkeitsprinzip gemäss §§ 1 und 61 StGB oder nach Art. 15 IPBPR keine Anwendung.“
4.2.3. Zwischenresümee
Ungeachtet der Frage, ob und inwieweit die Verfassung und das StGHG die Aufgabe des StGH, in Grundrechtsfragen eine eingeschränkte Vertretbarkeitskontrolle zu gewährleisten, klar konturieren oder nicht, zeigt sich, dass vor allem das StGHG dem Höchstgericht weite Gestaltungsspielräume einräumt – dies erschwert die klare Abgrenzung des verfassungsgerichtlichen Auftrages; und diese offenen Räume hat der Gerichtshof – wenig überraschend – ausgenutzt. Es verwundert daher auch nicht, dass der Gerichtshof ein ungeschriebenes Grundrecht auf Willkürverbot und letztlich einen groben «Willkürprüfraster» etabliert hat.
Die höchstgerichtliche Bewertung, ob eine fachgerichtliche Entscheidung «grob unsachlich» oder «unvertretbar» war, setzt naturgemäss eine inhaltliche Prüfung der angefochtenen Entscheidung voraus. Das Problem im Anlassfall ist nun nicht daran zu sehen, dass der StGH fachgerichtliche Entscheidungen inhaltlich überprüft, sondern, wie er den ihm übertragenen Kontrollauftrag umsetzt und ausgestaltet.
Mit einer Individualbeschwerde gem Art 15 StGHG wegen eines Verstosses gegen das Willkürverbot können nach der nicht immer einheitlichen Spruchpraxis nicht nur krasse Fehler der Fachgerichte[57] gerügt werden, wie dies das Rechtsschutzkonzept der Verfassung an sich bezweckt, sondern auch Fehler der fachgerichtlichen Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung, obwohl diese „einfachen Fehler“ oftmals nicht in die Verfassungssphäre reichen und nicht als qualifizierte Verstösse zu werten sind.
Greift der StGH solche «einfachen Fehler» auf, überschreitet der StGH diesfalls die Linie zwischen grundrechtlicher Vertretbarkeitskontrolle und echter «Revisionsprüfung als vierte Instanz» und überspannt das Rechtsschutzkonzept der Verfassung. Dies zeigt sich vor allem, wenn der StGH angefochtene Entscheidungen des VGH oder des OGH intensiv prüft, obwohl die Entscheidungen keine gravierenden Mängel aufweisen, sondern eine «vertretbare Rechtsauffassung», die dem StGH – wie etwa in der Stipendienentscheidung – als «unrichtig» erscheint.
Beschäftigt sich der StGH aber intensiv mit der Auslegung einfachgesetzlicher Rechtsfragen (wie etwa hins der Beurteilung einer strafrechtlichen Übergangsbestimmung), läuft seine Prüfung darauf hinaus, zu beurteilen, ob eine angefochtene Fachentscheidung generell «unrichtig» gewesen sein könnte; damit verlässt der StGH aber den ihm verfassungsgesetzlich vorgegeben Prüfraster («grundrechtliche Vertretbarkeitskontrolle»).
Dabei ist es an sich die Aufgabe des StGH, nur jene Entscheidungen der Fachgerichte aufzugreifen, die als grob unvertretbar und als unsachlich qualifiziert werden müssen (daher «willkürlich» sind). Abweichende Rechtsauffassungen allein berechtigen den StGH nicht dazu, eine vierte Tatsacheninstanz zu eröffnen.[58] Daher darf der StGH nur unter der Voraussetzung, dass eine fachgerichtliche Entscheidung «auffallend falsch» ist, solche Urteile aufgreifen. Zu diesem Zweck muss sich der StGH natürlich ein Gesamtbild vom Verhalten des Gerichts im Anlassfall machen.[59] Dennoch bleibt fraglich, ob fachgerichtliche Entscheidungen, die nach erster Grobprüfung keinen Hinweis auf willkürliches Verhalten bieten, dennoch detailliert inhaltlich nachgeprüft werden müssen[60] – das hat mit einer Vertretbarkeitskontrolle nur mehr am Rande zu tun.
4.3. Exkurs: Die Willkürrechtsprechung des ö VfGH
Der österreichische VfGH hat schon früh den Begriff der «objektiven Willkür» aus dem Gleichheitssatz abgeleitet.[61] Objektive Willkür liegt vor, wenn eine gerichtliche Entscheidung wegen gehäuften Verkennens der Rechtslage mit den geltenden Rechtsvorschriften in besonderem Mass in Widerspruch steht[62] oder dem Gericht gravierende Verfahrensfehler unterlaufen sind,[63] ferner wenn das Gericht die erforderliche Abwägung zwischen konfligierenden Grundrechten oder Interessenspositionen nicht vornimmt.[64] In beiden Fällen handelt es sich um qualifizierte Rechtswidrigkeiten entweder im materiellrechtlichen oder im Bereich des formellen Rechts.[65] Damit zeigt sich, dass das Willkürverbot nach gängiger österreichischer Auslegung einen Kerngehalt des Gleichheitssatzes darstellt. Aufgrund des Willens des liechtensteinischen Verfassungsgesetzgebers können diese Wertungen auch auf die Auslegung der Liechtensteinischen Verfassungsgerichtsbarkeit übertragen werden.
Einer der Bedeutungsgehalte des Gleichheitssatzes ist (auf Basis der stRsp des ö VfGH) daher darin zu sehen, Massstab für die Beurteilung der immanenten Stimmigkeit und Sachgerechtigkeit von Regelungen und gerichtlichen Entscheidungen zu sein; diese Massstabsbildung kann nach Auffassung des VfGH auch unabhängig vom «intellektuellen Vorgang des Vergleichens» zwischen verschiedenen Rechtspositionen zur Anwendung gebracht werden.[66] Der Gleichheitssatz und das daraus ableitbare Willkürverbot sind damit allgemein Massstab für die Frage der Sachlichkeit und Verfassungskonformität des Verhaltens der Vollziehung.
Eine Entscheidung eines Gerichts sub titulo «objektiver Willkür» verstösst gegen den Gleichheitssatz, wenn der gerichtliche «Fehler» gravierend ist und in die Verfassungssphäre reicht. Dies liegt nach der Spruchpraxis des ö VfGH vor, wenn das Gericht:[67]
so fehlerhaft vorgegangen ist, dass dies mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, etwa, wenn das Gericht die Rechtslage gehäuft oder grob verkannt hat,
eine denkunmögliche Gesetzesanwendung vornimmt,
das ihm eingeräumte Ermessen erheblich überschreitet («Ermessensexzess»),
gegen die Grundsätze von Treu und Glauben verstösst,
eine bisher rechtmässige Praxis ohne nähere Begründung ändert,
von völlig abwegigen Sachverhaltsannahmen ausgeht,
verfassungsrechtliche Grundsätze ausser Acht lässt,
jede Ermittlungstätigkeit in einem verfahrens- und entscheidungsrelevanten Punkt unterlässt,
Parteivorbringen ignoriert und vom Akteninhalt leichtfertig abgeht,
Beweisaufnahmen einseitig durchführt,
eine Begründung zu verfahrensrelevanten Aspekten unterlässt,
Ausführungen vornimmt, denen kein Begründungswert zukommt,
Parteienrechte missachtet,
das Parteiengehör nicht gewährt,
sich sonst nicht mit Gründen auseinandersetzt, die entscheidungsrelevant sind.
Bereits zuvor wurde darauf hingewiesen, dass die Erweiterung des Grundrechtskatalogs der liechtensteinischen Verfassung Kernkompetenz des Landtages (Art 112 LV), nicht aber des StGH ist. Vor diesem Hintergrund der verfassungsgerichtlichen Judikatur in Österreich und Deutschland zum Gleichheitssatz ist daher ein weiterer tragender Begründungsansatz, der StGH 1998/45 zur Entwicklung eines ungeschriebenen Grundrechts auf Willkürverbot bewegte, zu hinterfragen. Doch mit diesem Aspekt hat sich der StGH in seiner Rechtsprechung bis dato nicht auseinandergesetzt.
5. Begründungsansätze des StGH für die Entwicklung eines ungeschriebenen Grundrechts «Willkürverbot»
Nach der Darstellung der Spruchpraxis des StGH in Willkürfragen ist in einem weiteren Schritt zu erörtern, welche Gründe das Höchstgericht bewogen, in seiner Entscheidung 1998/45 ein ungeschriebenes Grundrecht mit dem Titel «Willkürverbot» anzuerkennen.[68] Es sind vier Begründungsebenen, die der Gerichtshof ausdrücklich ins Treffen führt:
Erstens: «Inzwischen» sei auch in Österreich die Konzeption der Geschlossenheit des Rechtsquellensystems zunehmend in Frage gestellt worden; unter einem verweist der StGH auf den Beitrag von Wieshaider/Gugging, Gewohnheitsrecht als Rechtsquelle des österreichischen Bundesverfassungsrechts, ÖJZ 1997, 481.
Zweitens: Das Willkürverbot würde unzweifelhaft zum unverzichtbaren Grundbestand des Rechtsstaates gehören; es decke aber bei aller Überlagerung mit dem Schutzbereich des Gleichheitsgrundsatzes gemäss Art 31 Abs 1 LV doch einen originären Schutzbereich ab.[69]
Drittens: Die liechtensteinische Praxis hätte sich die österreichische Konzeption der Geschlossenheit des Rechtsquellensystems nie konsequent zu eigen gemacht, da jedenfalls im Grundrechtsbereich eine Nachführung der Verfassung, wie dies insbesondere die schöpferische Rechtsprechung des StGH notwendig gemacht hätte, nie erfolgt ist. Der StGH habe sich bisher damit beholfen, neue Grundrechte aus geschriebenen Grundrechten, insbesondere dem Rechtsgleichheitsgrundsatz von Art 31 Abs 1 LV abzuleiten. Auch abgesehen von Art 31 Abs 1 LV hat der Staatsgerichtshof die Umschreibung der verfassungsmässig gewährleisteten Rechte in der Regel als bewusst so flexibel gehalten erachtet, dass sie eine allen verfassungswesentlichen Schutzbedürfnissen gerecht werdende Auslegung zulasse. «Vor dem Hintergrund dieser Erwägungen ist es gerechtfertigt,» dem Willkürverbot den Status eines solchen ungeschriebenen Grundrechts zuzuerkennen.
Viertens: Der StGH verweist auf Verfassungsentwicklungen in der Schweiz, die Ausstrahlungswirkung auf Liechtenstein entfalte. Das Bundesgericht hätte vor bzw nach Inkrafttreten der neuen Schweizer Verfassung wiederholt ungeschriebene Rechte aus der alten Verfassung abgeleitet, etwa ein Recht auf Existenzsicherung (BGE 121 I 1367) oder das Streikrecht (BGE 125 III 277).[70]
Im Schrifttum wurde das Judikat durchgängig begrüsst. Kley wies etwa darauf hin, dass die Argumentation des StGH methodisch vorbildlich und im Sinne der juristischen Hermeneutik nachvollziehbar sei. Der Gerichtshof würde einen konsequenten Schritt gehen, da die Ableitung des Willkürgrundrechts aus dem allgemeinen Gleichheitssatz beschwerlich und als Akt der Rechtsschöpfung abzulehnen sei.[71]
Hoch begründete das Vorgehen des Gerichtshofes damit, dass sich der StGH, wohl beeinflusst durch Vorarbeiten Thürers und Verfassungsentwicklungen im Nachbarstaat Schweiz, «explizit von seinem der österreichischen Verfassungsrechtsprechung verpflichteten rechtspositivistischen ›Bann‹ gegen ungeschriebenes Verfassungsrecht» verabschiedet habe.[72] «Dieser Abkehr vom Rechtspositivismus entsprach das Bekenntnis des Staatsgerichtshofes zu einem ›Methodenpluralismus‹ bei der Gesetzesauslegung.»[73] Der StGH habe sich «zudem ‚dem heute allgemein vorherrschenden topisch-offenen Verständnis der Rechtsfindung’ » angeschlossen.[74]
Vogt führte aus, dass die Anerkennung des Willkürverbots als ein ungeschriebenes Grundrecht Zustimmung verdiene, da das vergleichsunabhängige Willkürverbot als Minimalstandard der Gerechtigkeit – wie es dem Verständnis des Staatsgerichtshofes entspricht – nicht in Art 31 Abs 1 Satz 1 LV verortet werden könne und ebenso unzweifelhaft kein anderer geschriebener Verfassungsrechtssatz in der liechtensteinischen Verfassung existiere, woraus ein justiziables «verfassungsmässiges Recht» in diesem Umfang abgeleitet werden könne.[75]
Auf einzelne Begründungserwägungen wird im Anschluss gesondert eingegangen. An dieser Stelle genügt es, anhand einzelner Anmerkungen darzulegen, dass die Auffassung des StGH und die im Schrifttum geäusserten Positionen durch die Bank nicht überzeugen.
Erstens ist die Kreation eines ungeschriebenen Grundrechts viel eher ein Akt der Rechtsschöpfung als die Ableitung bestimmter grundrechtlicher Wertungen aus einem geschriebenen Grundrecht der Verfassung. Im Licht der eindeutigen Rechtsprechung der Höchstgerichte der Nachbarstaaten zum Willkürverbot ist der Ansatz des StGH in StGH 1998/45 zu hinterfragen.
Zweitens stützt sich der StGH in seiner Entscheidung auf eine vereinzelte österreichische Publikation, nicht aber auf anerkannte Standardlehrbücher oder verfassungsrechtliche Kommentierungen aus Österreich, sodass der vom Gericht gezogene Schluss schon allgemein aus diesem Grund problematisch erscheint.
Drittens erscheint es bemerkenswert, dass sich der StGH an keiner einzigen Stelle mit der Spruchpraxis des ö VfGH bzw des dt BVerfG zum Willkürverbot eingehend auseinandergesetzt hat, obwohl der liechtensteinische Verfassungsgesetzgeber die Bedeutung der verfassungsgerichtlichen Praxis im Nachbarstaat bis heute als massgebend erachtet; beide Höchstgerichte der Nachbarstaaten haben bislang keine Beanstandung daran gefunden, wesentliche Bedeutungsgehalte des Willkürverbots unmittelbar aus dem Gleichheitssatz abzuleiten.[76] Das allerdings verschweigt der StGH.
Viertens ist die vom StGH und von Teilen des Schrifttums betonte Notwendigkeit der Abkehr vom Rechtspositivismus spätestens seit der Verfassungsrevision 2003 überholt. Anders als dem ö VfGH und dem dt BVerfG kommt dem StGH kein „Auslegungsmonopol“ in Verfassungsfragen zu. Änderungen und Klarstellungen zur LV fallen in die ausschliessliche Kompetenz des Landtages (Art 112 Abs 2 LV). Dieser wiederum hat die Position des StGH bis dato nicht bestätigt.
Fünftens erscheint es strittig, dass sich der StGH ohne klare Begründung von den rechtspositivistischen Vorgaben der Verfassung «verabschiedet» hat, wie dies etwa Hoch (aaO) schreibt. Als «Spielregelverfassung» steht die liechtensteinische Verfassung in der Tradition der Theorie des sog «Rechtspositivismus», wonach als Verfassungsrecht nur gilt, was durch den Gesetzgeber als solches ausdrücklich erlassen wurde; vgl explizit zB Art 92 Abs 4; 112 Abs 2 LV. Ungeschriebenes Verfassungsrecht bzw Verfassungsgewohnheitsrecht als solches gibt es im rechtspositivistischen Sinn daher nicht.[77] Inwiefern es daher zulässig ist, nicht explizit gesetzliche geregelte, ungeschriebene Prinzipien/Grundrechte aus einzelnen Bestimmungen der LV bzw der Verfassung in ihrer Gesamtschau herauszukristallisieren, wäre daher näher zu begründen.[78] Ausführungen dazu fehlen der StGH-Rsp aber bis heute.
Schon insoweit steht die Auffassung des StGH, dass es eines ungeschriebenen Grundrechts namens «Willkürverbot» bedurfte, auf einem «wackligen Fundament».
6. Notwendigkeit der Beibehaltung eines ungeschriebenen «Willkürverbots» trotz klarer Verfassungsrechtslage in Liechtenstein?
Abgesehen von den zuvor angesprochenen Gegenargumenten bzw methodischen Vorbehalten ist anschliessend in systematischer Hinsicht zu untersuchen, ob die vom StGH in seinem Urteil 1998/45 erwähnte Tatsache, dass
die liechtensteinische Verfassung kein ausdrückliches Willkürverbot statuiere,
dem Gleichheitssatz des Art 31 LV in der Auslegung des StGH nicht alle relevanten Bedeutungsgehalte des Willkürverbots entnommen werden können,
und der Verfassungsgesetzgeber es trotz der bestehenden politischen Notwendigkeit (wenn man etwa an die Rechtsentwicklung in der Schweiz denkt), verabsäumt habe, ein Willkürverbot ausdrücklich anzuerkennen,
die Beibehaltung eines ungeschriebenen Grundrechts auf Willkürverbot legitimieren könnte.
Dem StGH ist zuzugestehen, dass weder die EMRK noch die LV ein ausdrücklich so bezeichnetes Grundrecht enthalten, das dem Einzelnen die «Freiheit von staatlicher Willkür» gewährleistet. Auch die österreichische Bundesverfassung kennt kein dementsprechend bezeichnetes Grundrecht. Anders ist die Situation in der Schweiz. Art 9 der Schweizer Bundesverfassung sieht ein entsprechendes Grundrecht vor.[79]
Allerdings wäre es zu eng, daraus isoliert zu folgern, dass die liechtensteinische Verfassung, insb die EMRK, keine Bestimmung enthalte, die mit dem durch den StGH anerkannten, ungeschriebenen Grundrecht «Willkürverbot» systematisch und funktionell vergleichbar wäre.[80]
Erstens stehen einzelne, im vierten Hauptstück der Verfassung enthaltenen Grundrechte unter Ausgestaltungsvorbehalt.[81] Daraus folgt jedenfalls (im Zusammenhang mit Art 31 Abs 1 LV) nicht, dass der einfache Gesetzgeber oder die Vollziehung berechtigt wären, nach freiem Ermessen beliebige Bedingungen für die Ausübung der durch die LV anerkannten Freiheiten festzusetzen. Auch ist es der Vollziehung, etwa sub titulo Gewerbe- und Handelsfreiheit (Art 36 LV), nicht erlaubt, Vollziehungsakte beliebigen Inhalts zu erlassen, selbst wenn der Gesetzgeber zu einzelnen Details der Inanspruchnahme dieser Freiheiten (Art 36 LV) «schweigen» sollte, etwa, weil er von der Erlassung näherer Ausübungsbedingungen Abstand genommen hat.
Zweitens sind die meisten Konventionsgrundrechte der EMRK unter materiellem Eingriffsvorbehalt gewährleistet. Art 8 Abs 2 EMRK erlaubt Eingriffe staatlicher Behörden nur unter bestimmten, eng begrenzten Voraussetzungen.[82] Insbesondere der Vorbehalt, dass staatliche Eingriffe in ein Konventionsgrundrecht nur dann statthaft sind, wenn sie in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind, zeigt, dass eine gerichtliche Vertretbarkeitskontrolle in Art 8 Abs 2 EMRK und vergleichbaren Konventionsgrundrechten (unter Willkürgesichtspunkten) systematisch mitbedacht ist (vgl daran anknüpfend Art 34 ff EMRK). Darauf ist der StGH in seiner Rechtsprechung bislang nicht eingegangen.
Drittens statuiert Art 14 EMRK ein umfassendes Verbot der Benachteiligung des Einzelnen, etwa aus Gründen der Nationalität oder aus «sonstigen Gründen». Zwar ist Art 14 EMRK nur insoweit anwendbar, als der «Genuss der in der vorliegenden Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten» durch ein staatliches Organ beeinträchtigt wird; allerdings wäre eine staatliche Beschränkung der Konventionsrechte, die ohne vernünftigen Grund bzw ohne sachliche Rechtfertigung erfolgt, jedenfalls als staatliche Willkür anzusehen und würde einer Überprüfung sub titulo Art 14 EMRK nicht standhalten.[83]
Das nationale Schrifttum hat, soweit es bislang den Zweck, die Reichweite und die Grenzen des ungeschriebenen «Willkürverbot» erörtert hat, die angesprochene systematische Konzeption der Konventionsgrundrechte und ihre Bedeutung sowie insb auch den Einfluss von Art 14 EMRK nicht weiter in ihrer Analyse einbezogen. Vogt folgert zusammenfassend, dass die EMRK keinen allgemeinen Gleichheitssatz enthalte[84] und erachtet unter anderem aus diesem Grund die Postulierung eines ungeschriebenen Grundrechts «Willkürverbot2, abseits von Art 31 LV, als gerechtfertigt.
Auch auf Sicht der Konvention zeigt sich, dass die Kreation eines ungeschriebenen Grundrechts „Willkürverbot“ schlicht nicht erforderlich ist. Gerade die systematische Konzeption der Grundrechtsgewährleistungen der EMRK (im Verständnis des EGMR) gewährleistet eine effektive Vertretbarkeitskontrolle fachgerichtlicher Entscheidungen durch den StGH. Auch insoweit ist daher am Mehrwert der ungeschriebenen Willkürverbots zu zweifeln. Einer Beibehaltung desselben bedarf es insoweit nicht.
7. Die Würdigung der Entscheidung des StGH
Die Thesen des Gerichtshofes zur Ableitung des Willkürverbots sind beachtlich und mit Blick auf die historische «Verfassungskrise» Liechtensteins Ende der 1990er Jahre[85] rechtspolitisch nachvollziehbar – offensichtlich ging es dem Gerichtshof auch darum, eine Antwort auf die zunehmende Gefahr der politischen Einflussnahme auf die (Verfassungs)gerichtsbarkeit des Landes zu geben.
Betrachtet man den Fall zwanzig Jahre danach, überzeugen die Argumente des Gerichtshofes jedoch nicht länger. Der Reihe nach.
Erstens: Das Argument, Österreich habe die Konzeption der Geschlossenheit des Rechtsquellensystems in Frage gestellt oder gar aufgegeben, verfängt nicht. Im Gegenteil. Die stRsp des österreichischen VfGH wie auch die herrschende österreichische Verfassungsrechtslehre haben auch nach 1999 an der These der relativen Geschlossenheit des österreichischen Rechtsquellensystems festgehalten.[86] Der VfGH leitet aus dem demokratischen und dem rechtsstaatlichen Prinzip der österreichischen Bundesverfassung weiterhin einen «Rechtstypenzwang» ab. Dadurch wird zum einen ein Legitimationszusammenhang, zum anderen die gerichtliche Kontrolle der Rechtsetzung gewährleistet. Ein Beispiel: Von der staatlichen Verwaltung gesetzte und mit allgemeiner Verbindlichkeit ausgestattete Normen müssen daher im Regelfall als Verordnung erlassen werden (s auch Art 139 ö B-VG). Der einfache Gesetzgeber ist ferner verpflichtet, die verbindliche Gestaltung individueller Rechtsverhältnisse an jene Rechtsformen zu binden, die einen verfassungsgesetzlich vorgesehenen Rechtsschutz ermöglichen (Art 144 B-VG). Verwaltungsentscheidungen, die erhebliche Rechtswirkungen für Einzelpersonen haben, dürfen daher nicht als rechtlich nicht bekämpfbare Verwaltungsakte konstruiert werden. Rechtlich bekämpfbar ist in der Regel nur ein Bescheid.[87] Für Liechtenstein gilt nichts Abweichendes (vgl zB Art 15 StGHG, der auf Verfügungen etc abstellt, bzw Art 104 Abs 2 LV, der an Regierungsverordnungen anknüpft).
Damit im Zusammenhang steht ein weiterer wichtiger Aspekt des Rechtstaatsprinzips. Das Rechtsstaatsprinzip verlangt ein Mindestmass an Zugänglichkeit, Berechenbarkeit und Verständlichkeit der Rechtsnormen. Der Gesetzgeber (und in eingeschränktem Ausmass auch andere Entitäten) haben Rechtsnormen nach den in der Verfassung vorgegebenen Verfahren zu erlassen; dadurch wird der Inhalt dieser Regelungen den Rechtsadressaten in klarer und erschöpfender Weise zur Kenntnis gebracht und für diese berechenbar.[88] Dass Höchstgerichte – abgesehen von der Erlassung von Urteilen oder Geschäftsordnungen – zur Schöpfung von Grundrechten berechtigt wären, lässt sich weder der liechtensteinischen noch der österreichischen bzw deutschen Verfassung entnehmen.
Ausserdem ist zu bedenken, dass der liechtensteinische Verfassungsgesetzgeber im Zuge der Verfassungsrevision 2003 an der bisherigen Konzeption des vierten Hauptstücks der Verfassung bzw des darin positivierten Grundrechtskatalogs festhielt.[89] Anders als die Schweizer Bundesverfassung hat der liechtensteinische Verfassungsgesetzgeber darauf verzichtet, das Willkürgrundrecht explizit im vierten Hauptstück der LV zu verankern. Man kann das «Schweigen des Verfassungsgesetzgebers» daher sinnvollerweise nur dahingehend interpretieren, dass er die Auffassung des StGH zwar zur Kenntnis genommen, eine Ausweitung des Grundrechtskatalogs oder der Aufgaben des StGH aber nicht für erforderlich erachtet hat. In diesem Zusammenhang darf auch der bereits zuvor zitierte Katalog der Konventionsgrundrechte nicht ausser Betracht gelassen werden, die einem willkürlichen staatlichen Verhalten doch effektive Grenzen setzen.
Auch die im Schrifttum vertretene These, dass der StGH das Willkürverbot als vergleichsunabhängigen Gerechtigkeitsstandard anerkannt und damit seit längeres in Liechtenstein geübtes Verfassungsgewohnheitsrecht ausdrücklich als ungeschriebenes Grundrecht etabliert habe,[90] überzeugt nicht. Gewohnheitsrecht kann nur dort auftreten, wo es von der positiven Verfassungsrechtsordnung ausdrücklich als solches anerkannt wird oder von der Verfassung vorgefunden wurde. Auf Grund der ungebrochenen Rechtskontinuität der liechtensteinischen Verfassung seit 1862 wird im Bereich des Verfassungsrechts die Existenz von Gewohnheitsrecht kaum festzustellen sein. Auch die Anerkennung «ungeschriebener Grundrechte» durch den StGH bedeutet per se noch keine Zulässigkeit der Anerkennung von Gewohnheitsrecht durch die Verfassung. Grundrechte, die dem positiven Verfassungsrecht inhärent sind, stellen kein Gewohnheitsrecht dar.[91]
Zweitens: Das Argument des StGH, das Willkürverbot würde unzweifelhaft zum unverzichtbaren Grundbestand des Rechtsstaates gehören, aber bei aller Überlagerung mit dem Schutzbereich des Gleichheitsgrundsatzes gemäss Art 31 Abs 1 LV doch einen originären Schutzbereich abdecken, der aus dem Gleichheitssatz nicht ableitbar sei,[92] überzeugt ebenfalls nicht. Die stRsp des ö VfGH und des dt BVerfG zeigen eindrücklich, dass bestimmte Bedeutungsgehalte – unabhängig vom eigentlichen «Vergleichen von Rechtspositionen» – aus dem Gleichheitssatz abgeleitet werden können. Insoweit stellt der Gleichheitssatz einen allgemeinen Wertungsmassstab für die Sachlichkeit staatlichen Verhaltens dar; das gilt daher auch für Art 31 LV. Warum es daher in Liechtenstein nicht ebenfalls möglich sein soll, bestimmte Aspekte des Willkürverbots unmittelbar aus dem Gleichheitssatz, und sei es in systematischer Kombination mit der EMRK abzuleiten, erhellt nicht. Schon insoweit bedarf es einer rechtsschöpferischen Kreation eines ungeschriebenen Grundrechts nicht.
Drittens: Der StGH postuliert, dass sich die liechtensteinische Praxis die österreichische Konzeption der Geschlossenheit des Rechtsquellensystems nie konsequent zu eigen gemacht hätte; die schöpferische und flexible und die allen verfassungswesentlichen Schutzbedürfnissen gerecht werdende Auslegung des StGH würden es legitimieren, dem Willkürverbot den Status eines ungeschriebenen Grundrechts zuzuerkennen. Dieses Argument erscheint im Licht des Art 112 Abs 2 LV nicht tragfähig. Die liechtensteinische Verfassung hat die ausschliessliche Kompetenz zur Erweiterung des Grundrechtskatalogs der LV (iS einer Verfassungsänderung) dem Landtag übertragen, was als klare Absage der Auffassung des StGH zu werten ist. Zudem hat die Verfassung an der zentralen Aufgabe des StGH, nämlich als Hüter der Grundrechte (Art 104 Abs 1 LV; Art 15 StGHG) die Durchführung einer grundrechtlichen Vertretbarkeitskontrolle zu gewährleisten, festgehalten, diesen Aufgabenkatalog aber nie modifiziert.
Viertens: Auch die vom StGH ins Treffen geführte Verfassungsentwicklung in der Schweiz, wonach das Bundesgericht wiederholt ungeschriebene Rechte aus der alten Verfassung abgeleitet und anerkannt hätte, dringt nicht durch. Der liechtensteinische Verfassungsgesetzgeber hat es nicht für erforderlich erachtet, den Grundrechtskatalog zu erweitern. Das Schweigen des Souveräns sollte ernst genommen werden.
8. Resümee, Konsequenzen und Anregungen pro futuro
Was folgt aus dem Gesagten? Bedarf es eines ungeschriebenen Grundrechts «Willkürverbot» bzw ist seine Beibehaltung gerechtfertigt? Die Antwort ist eindeutig: Nein; alles das, was das ungeschriebene Grundrecht «Willkürverbot» leisten soll, wird durch das vierte Hauptstück der LV (va den Gleichheitssatz) bzw die EMRK abgedeckt. Aus Sicht der Rechtsunterworfenen und im Sinne der Planungs- und Rechtssicherheit sollte der StGH daher die Auffassung von der Notwendigkeit der Beibehaltung eines ungeschriebenen Grundrechts «Willkürverbot» und die damit verknüpfte Rechtsprechungslinie aufgeben.
Der StGH ist aber auch in verfassungssystematischer Hinsicht aufgefordert, seine Position und die von ihm zu prästierende Kontrolldichte zu überdenken. Er sollte nur die ihm durch die Verfassung und das StGHG übertragene Aufgabe der grundrechtlichen Vertretbarkeitskontrolle, die im Regelfall eine blosse Evidenzkontrolle[93] darstellen wird, wahrnehmen, nicht aber darüber hinausgehen. Der StGH ist nach der klaren Position der LV keine vierte Tatsacheninstanz und damit nicht zu umfassenden inhaltlichen Überprüfungen fachgerichtlicher Entscheidungen berufen. Als «Hüter der Grundrechte» soll der StGH die Auslegung und Anwendung einfachen Rechts den Fachgerichten überlassen (Art 104 Abs 1 LV). Solange das Ergebnis der fachgerichtlichen Beurteilung – iS einer Gesamtschau – nicht zu beanstanden ist, ist es nicht erforderlich, die eigene Meinung an die Stelle der oder parallel zu den Wertungen der Fachgerichte zu setzen.
Damit das von der Verfassung vorgegebene Aufgabenprofil des StGH als «Hüter der Grundrechte» geschärft wird, sollten – wie die Untersuchung gezeigt hat – einzelne Aspekte des StGHG ergänzt bzw modifiziert werden.
Einführung eines Neuerungsverbots – der StGH sollte seine Entscheidung auf Basis der Sach- und Rechtslage treffen, die zum Stand des Entscheidungszeitpunkts der letzten fachgerichtlichen Instanz gegeben war; Neuerungen im Rahmen der Erhebung der Individualbeschwerde bedarf es aus rechtspolitischer bzw verfassungsvergleichender Sicht (siehe Österreich; Deutschland) nicht.
Festschreibung, dass der StGH in Individualbeschwerdeverfahren grds keine weiteren Beweise aufnehmen soll bzw kein eigenständiges Beweisverfahren durchführen darf – ein abweichendes Vorgehen hat mit einer gerichtlichen Vertretbarkeitskontrolle nichts zu tun. Erweist sich ein fachgerichtliches Beweisverfahren in entscheidungswesentlichen Punkten als dürftig oder fehlerhaft, ist die fachgerichtliche Entscheidung wegen Verstosses gegen das Willkürverbot ohnehin ersatzlos zu kassieren; eines eigenständigen staatsgerichtlichen Beweisverfahrens bedarf es daher nicht.
Einführung eines Ablehnungsrechts für den StGH nach Art des Art 144 Abs 2 B-VG iVm § 84 ö VfGG: Stellt sich nach einer ersten Beurteilung heraus, dass eine fachgerichtliche Entscheidung verfassungskonform ist und eine Individualbeschwerde keine Aussicht auf Erfolg hat, erscheint es nicht zielführend, dass der StGH eine umfassende Entscheidung formuliert bzw seiner Entscheidung intensive, weiterführende Begründungserwägungen anschliesst. Wenn daher eine fachgerichtliche Entscheidung verfassungskonform ist und der StGH «nur» eine Vertretbarkeitskontrolle vorzunehmen hat, ist es aus rechtspolitischer Sicht nicht erforderlich, jedem Absatz einer im Ergebnis aussichtslosen Individualbeschwerde en detail nachzugehen.
Am Ende des Beitrages bleibt festzuhalten: Ähnlich wie das dt BVerfG und der ö VfGH hat der StGH in Grundrechtsfragen die Aufgabe einer Vertretbarkeitskontrolle vorzunehmen. Er soll im Sinne einer Evidenzprüfung schwerwiegende Fehler der Fachgerichte, die in die Verfassung reichen, aufgreifen. Die Durchführung eines vierten Instanzverfahrens durch den StGH hatte die Verfassung nicht vorgegeben.
Was demgegenüber die Auslegung der Reichweite des vierten Hauptstücks der Verfassung bzw des Art 15 StGHG anlangt, ist zu konstatieren, dass die stRsp zum Willkürverbot überdacht werden sollte; es findet sich kein tragendes Argument, das für die Beibehaltung der Willkürrechtsprechung spricht.