Das Willkürverbot in der Schweizer Bundesverfassung – eine Grundrechtsskizze
Die Schweizer Bundesverfassung enthält, anders als die Verfassungsordnungen Liechtensteins oder Österreichs, ein explizites Grundrecht, das Schutz vor staatlicher Willkür gewährleistet. Der nachfolgende Beitrag skizziert die wesentlichen Eckpunkte dieser Gewährleistung.
1. Begriff und Funktion
Art 9 der Schweizer Bundesverfassung (BV[1]) ist mit «Schutz vor Willkür und Wahrung von Treu und Glauben» übertitelt. Danach hat jede Person Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür (…)[2] behandelt zu werden. Es steht selbständig neben dem allgemeinen Gleichheitssatz gem Art 8 Abs 1 BV.
«Das Willkürverbot ist eine unverzichtbare Grundlage des Rechtsstaates; es sichert dem Einzelnen im Umgang mit den Behörden ein Mindestmass an Gerechtigkeit. Aufgrund dieser Eigenschaft als Mindestgarantie erscheint das Willkürverbot wie ein subsidiäres Verfassungsrecht, das dann angerufen werden wird, wenn kein anderes Grundrecht oder kein anderes spezifisches Recht geltend gemacht werden kann.»[3]
Dementsprechend geht das CH-Bundesgericht (BG) in stRsp davon aus: «Gemäss Art. 9 BV hat jede Person Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür behandelt zu werden. Willkürlich ist ein Entscheid nicht schon dann, wenn eine andere Lösung ebenfalls vertretbar erscheint oder gar vorzuziehen wäre, sondern erst dann, wenn er offensichtlich unhaltbar ist, zur tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Willkür liegt nur vor, wenn nicht bloss die Begründung eines Entscheides, sondern auch das Ergebnis unhaltbar ist.»[4]
Aus dem Gesagten folgt: Das Willkürverbot stellt einen zentralen Grundsatz staatlichen Handelns dar (vgl auch Art 5 Abs 3 BV). Es ist aber mehr, nämlich ein selbstständiges und justiziables verfassungsmässiges Recht des Einzelnen. Art 9 BV begründet einen entsprechenden individualrechtlichen Anspruch.
Doch soll die praktische Bedeutung des Willkürverbots nach dem Willen des historischen Gesetzgebers beschränkt sein. Das Grundrecht soll prozessual als «letzter Rettungsanker» wirken. Art 9 BV soll im Wesentlichen als «Auffanggrundrecht» Bedeutung zukommen.[5] Das Willkürverbot soll also erst dann eingreifen, wenn und soweit nicht ein anderes Grundrecht (wie es etwa in der EMRK oder der BV enthalten ist) einschlägig ist und auf den Sachverhalt angewendet werden kann.[6]
Das Grundrecht des Art 9 BV besteht ausdrücklich seit 1999. Ihn kam aber schon vorher über eine entsprechende Bedeutung zu. Vor Inkrafttreten der Verfassungsrevision 1999 hatte das CH-Bundesgericht das Grundrecht in stRsp aus dem Gleichheitssatz (Art 4 BV aF) abgeleitet;[7] dies war Vorbild für den liechtensteinischen StGH, der in seiner Rsp seither die Auffassung vertritt, die Landesverfassung Liechtensteins enthalte (auch) ein «ungeschriebenes Grundrecht auf Willkürfreiheit».[8] Dem entsprach auch eine ältere Forderung, die in der Schweizer Verfassungslehre erhoben worden war.[9]
Das praktische Gewicht des in Art 9 BV verankerten Willkürverbots und des damit verbundenen grundrechtlichen Anspruchs sollte, gerade aus rechtsvergleichender Perspektive,[10] nicht unterschätzt werden. Das Willkürverbot soll nach dem Willen des Verfassungsgesetzgebers ein Minimum an Fairness im Umgang von staatlichen Behörden mit Personen sicherstellen.
Art 9 BV soll das Vertrauen der Allgemeinheit in das Verhalten der staatlichen Organe erhöhen. Die Bestimmung will daher den Einzelnen vor gravierendem staatlichem Fehlverhalten schützen. Daher ist der Anwendungsbereich des Willkürverbots auch auf alle Bereiche staatlicher Aktivitäten erstreckt, nicht bloss auf die Agenden der hoheitlichen Verwaltung (Art 35 Abs 2 BV).[11]
2. Grundrechtsträger
Art 9 BV schützt alle natürlichen und juristischen Personen vor staatlicher Willkür. Die CH-Bundesverfassung hat diesbezüglich, anders als etwa Art 7 B-VG oder Art 31 LV, keine spezifischen Einschränkungen oder Anwendungsvoraussetzungen formuliert.
Art 9 BV ist unterschiedslos auf CH-Staatsbürger, EWR-Bürger, Fremde etc anzuwenden. Dasselbe Bild zeigt sich bei rechtsfähigen Unternehmen, insb Körperschaften iSd OR oder des KAG. Auch ausländische rechtsfähige Gesellschaften, gleichgültig, ob diese ihren Sitz im EWR oder in einem Drittstaat verfügen, sind Grundrechtsträger, wenn sich die Tätigkeit des Staates und seiner Organe auf sie bezieht. Fehlt aber einer Rechtsgemeinschaft wie etwa einfachen Gesellschaften die Rechtspersönlichkeit (Art 530 ff OR), kommt diese als Grundrechtsträgerin nicht in Betracht. Berechtigt sind insoweit nur Gesellschafter bzw Mitglieder des Leitungsorgans.
3. Grundrechtsverpflichtete
Das Willkürverbot gilt umfassend und absolut; es soll keinen «rechts- und gerichtsfreien Raum» geben.[12] Auch wenn ihm nach den Willen des Verfassungsgesetzgebers nur subsidiärer Charakter zukommt, bindet es als objektives Grundprinzip die gesamte staatliche Tätigkeit. Grundrechtsträger können hinsichtlich jeder Facette staatlichen Verhaltens den Vorwurf erheben, dass ein dem Staat funktionell zuzurechnendes Organ willkürlich gehandelt habe.
3.1. Rechtsetzung
Art 9 BV erfasst sowohl die Rechtsetzung als auch die Rechtsanwendung. Was die Ebene der Rechtsetzung (vor allem im Bereich Gesetzgebung) anlangt, kommt dem Grundrecht in der Spruchpraxis des BG nur eingeschränkte Bedeutung zu.
Eine staatliche Regelung ist willkürlich, wenn sie sich nicht auf ernsthafte sachliche Gründe stützen lässt bzw allgemein sinn- und zwecklos ist.[13] Ferner geht das BG in stRsp davon aus, dass eine Norm willkürlich ist, wenn sie einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft.[14]
Das Willkürverbot wird oft in Kombination mit dem Gleichheitssatz (Gebot der Rechtsgleichheit gem Art 8 BV) geltend gemacht und geprüft: Demgemäss hat der Gesetzgeber das Differenzierungsverbot zu beachten. Ungleichbehandlungen sind nur dann zulässig, wenn sich im Einzelfall ein sachlicher und vernünftiger Grund für die Ungleichbehandlung vorliegt.[15]
Allerdings ist zu berücksichtigen, dass das Willkürverbot über den Gleichheitssatz hinausgeht: Das Willkürverbot kann auch geltend gemacht werden, wenn nicht zwischen verschiedenen Sachverhalten unterschieden wird, wenn also gerade kein Bezugs- oder Vergleichsobjekt vorliegt. Dies ist etwa für die Frage der Vereinbarkeit kantonalen mit Bundesrecht von Relevanz.[16]
Das Willkürverbot verpflichtet den Gesetzgeber zusammengefasst, keine qualifiziert falschen Regelungen zu erlassen, etwa, weil sie «geradezu unsinnig» sind. Bei der Beurteilung der Konformität einer staatlichen Regelung ist nicht nur auf eine bestimmte Person, sondern letztlich auf alle Rechtsunterworfenen abzustellen.
Fragen der zulässigen «Ausgestaltung» oder «Beschränkung» des Art 9 BV stellen sich nicht. Das Willkürverbot soll nach dem Willen des Verfassungsgesetzgebers einen grundrechtlichen Minimalstandard gewährleisten, der nicht unterschritten werden darf. Eine Beschränkung des Grundrechts auf «Schutz vor Willkür» ist – eben aufgrund der Funktion als Mindeststandard – nicht möglich oder erlaubt; zudem sieht Art 9 BV keine Schranken oder Ausgestaltungsvorbehalt zugunsten der Rechtsetzung vor.[17]
3.2. Rechtsanwendung
Grössere Bedeutung kommt dem Willkürverbot auf der Ebene der Rechtsanwendung zu. Rechtsanwendung bedeutet vor allem Gesetzesanwendung (Vollziehung) und ist daher nicht nur in der Verwaltung, sondern auch in der Gerichtsbarkeit von Relevanz.
Das BG hält in stRsp aus: «Nach der ständigen Praxis des Bundesgerichts liegt Willkür in der Rechtsanwendung vor, wenn der angefochtene Entscheid offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Das Bundesgericht hebt einen Entscheid jedoch nur auf, wenn nicht bloss die Begründung, sondern auch das Ergebnis unhaltbar ist. Dass eine andere Lösung ebenfalls als vertretbar oder gar zutreffender erscheint, genügt nicht.»[18]
Für die Bundesbehörden wie auch die kantonalen und kommunalen Behörden als «Rechtsanwender» ist das Willkürverbot insb in folgenden drei Konstellationen relevant:
Bei der Feststellung des Sachverhalts;
bei der Auslegung von Gesetzen (Rechtssätzen) und
schliesslich bei der Ausübung von Ermessen.[19]
Das Bundesgericht prüft vor allem, ob Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz (etwa ein kantonales Verwaltungsgericht) an einem massgeblichen Mangel leiden oder in allgemeiner Weise willkürlich erscheinen.[20] Im Rahmen der Sachverhaltsfeststellung kann daher Willkür vorliegen, wenn Sachverhaltsfeststellungen klar den Tatsachen widersprechen oder Beweiswürdigungen im Lichte der Tatsachen nicht haltbar sind.[21]
Was die zweite bzw dritte Ebene anlangt, wird geprüft, ob die behördliche Rechtsanwendung im Ergebnis (dh gesamthaft betrachtet) als willkürlich erscheint. In den relevanten Fällen stellt sich aus objektiver Sicht vor allem die Frage, ob eine willkürfreie Argumentation und Begründung im Ergebnis ein anderes Resultat hervorgebracht hätte.[22] Das Bundesgericht beschränkt sich bei seiner Kontrolle, etwa der Entscheidungen der kantonalen Verwaltungsgerichte, auf eine Grobprüfung.[23]
Das Bundesgericht hebt letztinstanzliche Entscheidungen wegen eines Verstosses gegen das Willkürverbot nur auf, wenn das Ergebnis unhaltbar ist. Nicht wegen Willkür aufgehoben werden letztinstanzliche Entscheide, wenn bloss die Begründung willkürlich ist oder wenn eine andere Lösung zutreffender erscheint, wenn ein anderes Ergebnis ebenfalls vertretbar wäre. Unerheblich ist sub titulo Willkürprüfung, welches Motiv eine Behörde verfolgte und ob sie schuldhaft handelte.
Auch im Verhältnis zwischen Gemeinden, denen ähnlich wie in Österreich eine gewisse Autonomie vom Staat und den Aufsichtsbehörden der kantonalen Verwaltung zukommt (etwa auf dem Gebiet des Baurechts), greift das Willkürverbot: Auf dem Gebiet der kommunalen Rechtsetzung ist die Gemeindeautonomie dann verletzt, wenn eine an sich zur Überprüfung des kommunalen Erlasses zuständige kantonale Behörde denselben rechtswidrig aufhebt, weil sie eine in Wirklichkeit nicht bestehende Rechtsverletzung annimmt oder sonst wie ihre Rechtskontrolle oder die ihr allenfalls zustehende Ermessenskontrolle willkürlich ausübt.[24]
Das allgemeine Willkürverbot, das daher bei jeder staatlichen Tätigkeit zu beachten ist, schafft nach der Rsp des Bundesgerichts für sich allein keine geschützte Rechtsstellung. Zur Willkürrüge ist eine beschwerdeführende Person deshalb nur legitimiert, wenn die gesetzlichen Bestimmungen, deren willkürliche Anwendung sie geltend macht, ihr einen Rechtsanspruch einräumen oder dem Schutz ihrer angeblich verletzten Interessen dienen. An einem Rechtsanspruch fehlt es zB dann, wenn keine gesetzliche Norm die Voraussetzungen der Bewilligungserteilung (bzw der Gewährung eines anderen Vorteils) näher regelt und diesbezügliche Kriterien aufstellt.[25]
BGE 138 I 305 E 1.4.4 führt idZ aus: «Damit von einer hinreichend konkretisierten Rechtsposition gesprochen werden kann, ist zunächst erforderlich, dass die in Frage stehende Norm nicht nur allgemeinen, sondern auch individuellen Interessen zu dienen bestimmt ist. Umschreibt sodann die Norm die Bedingungen, unter denen ein bestimmter Entscheid zu ergehen hat, genügend konkret, hat der Entscheid bei Erfüllung der Bedingungen so zu ergehen. Er hat den gesetzlichen Normen zu entsprechen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass hinsichtlich einzelner Bedingungen ein Ermessensspielraum besteht.»
4. Zwischenresümee
Aus dem bislang Gesagten lässt sich folgendes festhalten: Dem Willkürverbot kommt, ähnlich wie in Liechtenstein, lediglich eine subsidiäre Funktion in Form eines «Auffanggrundrechts» zu. Eine Berufung auf das Willkürverbot ist zwar in Bezug auf jegliches staatliche Verhalten zulässig. Dies ist allerdings nur dann sinnvoll, wenn sich ein Grundrechtsträger als Betroffener nicht zugleich auf eine andere Norm berufen kann, die den Rang eines verfassungsmässigen Rechts hat. Nur dann wird ein staatlicher Akt auch intensiv geprüft, eben weil dem Willkürverbot bloss Auffangfunktion zukommt. Insoweit ist daher auch nur (mehr) eine finale gerichtliche Grobprüfung des massgebenden Sachverhalts intendiert.
Die Behauptung des Beschwerdeführers, es liege staatliche Willkür vor, ist daher im Regelfall das «letzte prozessuale Mittel». Betroffene berufen sich auf das Willkürverbot, wenn die «anderen Argumente» vorgebracht wurden oder keine anderen Argumente (mehr) zur Verfügung stehen. In der Praxis findet eine gerichtliche Überprüfung eines Sachverhalts am Massstab des Willkürverbots meistens auch erst nach Analyse anderer behaupteter Grundrechtsverletzungen statt.
Analysiert man die stRsp des Bundesgerichts am Massstab des Art 9 BV, zeigt sich, dass die meisten Fälle die Ebene der Rechtsanwendung durch staatliche Behörden betrifft. Eine Aufhebung eines Entscheids wegen Verstosses gegen das Willkürverbot erfolgt,
weil der Behörde ein «krasser Fehler» unterlaufen ist,
weil die Ermessensausübung sachlich unhaltbar durchgeführt wurde, etwa, weil der klare Wortlaut einer Norm nicht berücksichtigt wurde, ohne dass hierfür Gründe genannt wurden,
weil eine klare, unumstrittene Norm oder klare Grundsätze einer Regelung offensichtlich verletzt wurden,
weil im Umgang mit dem relevanten Sachverhalt bzw den relevanten Tatsachen «gravierende Fehler» erfolgt sind (das Gericht spricht von der «klaren Tatsachenwidrigkeit einer Entscheidung»),
weil die Behörde methodisch falsch vorgegangen ist, etwa, weil die geprüfte Entscheidung tiefgreifende Widersprüche (in sich) aufweist,
weil das Resultat der Entscheidung willkürlich ist, etwa, weil ein stossender Widerspruch zum Gerechtigkeitsgedanken vorliegt
5. Prozessuale Geltendmachung des behaupteten Verstosses gegen das Willkürverbot
Hier interessiert nur die Überprüfung behaupteter Verstösse gegen das Willkürverbot durch das Bundesgericht als funktionelles Verfassungsgericht. Die CH-Bundesverfassung richtet das Bundesgericht als «oberste rechtsprechende Behörde des Bundes» ein (Art 188 BV). Art 189 BV erklärt das Bundesgericht zur letztinstanzlichen Beurteilung ua von Streitigkeiten wegen Verletzung von Bundesrecht, von Völkerrecht, von interkantonalem Recht udgl für zulässig. Weitere Regelungen sind durch einfaches Gesetz zu treffen.
Betroffenen stehen zwei Wege offen, um Verstösse gegen das Willkürverbot geltend zu machen.
5.1. Verfassungsbeschwerde
Ein Betroffener kann einen Verstoss gegen das Willkürverbot durch eine letztinstanzliche Entscheidung einer kantonalen Behörde einerseits mittels subsidiärer Verfassungsbeschwerde (Art 113 ff BGG[26]) geltend machen, wenn folgende drei Voraussetzungen erfüllt sind:
- Er hat als Partei im vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen oder ist als «übergangene Partei anzusehen», dh, er hatten keine Möglichkeit zur Teilnahme am Verfahren erhalten.
- Er verfügt über ein rechtlich geschütztes Interesse oder er macht geltend, dass die Norm, deren Anwendung er als willkürlich gerügt, ihm einen Rechtsanspruch einräumt oder den Schutz seiner angeblich verletzten Interessen bezweckt.
- Es ist keine ordentliche Beschwerde gem Art 72 ff BGG (in Zivil- und Strafsachen oder in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) zulässig (Art 83 BGG). So wird das Bundesgericht etwa in Einbürgerungsverfahren wiederholt mit subsidiären Verfassungsbeschwerden konfrontiert.[27]
In der Verfassungsbeschwerde sollte der Beschwerdeführer die Verletzung von verfassungsmässigen Rechten rügen. Im Einzelnen ist darzulegen, inwiefern eine staatliche Behörde willkürlich entschieden hat oder warum die Entscheidung an einem qualifizierten und offensichtlichen Mangel leidet. Zur Beschwerdefrist vgl Art 104 BGG.
In einer Beschwerde kann zwar immer ein Verstoss gegen das Willkürverbot geltend gemacht werden. Da das Willkürverbot aber als «Auffanggrundrecht» konzipiert ist, empfiehlt es sich, Art 9 BV nur sekundär geltend zu machen. Sofern daher der sachliche und persönliche Schutzbereich auch eines anderen Grundrechts eröffnet ist, sollte primär mit der Verletzung dieses Grundrechts argumentiert werden.
Die Beschwerde ist gem Art 107 BGG zu erledigen. Das bedeutet, das Bundesgericht darf nicht über die Begehren der Parteien hinausgehen; es prüft daher nur die geltend gemachten Grundrechtsverletzungen. Heisst das Bundesgericht die Beschwerde gut (ist die Verfassungsbeschwerde daher in der Sache zulässig), so entscheidet es in der Sache selbst oder weist diese zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurück. Es kann die Sache auch an die Behörde zurückweisen, die als erste Instanz entschieden hat.
5.2. Ordentliche Beschwerde
Ua in bestimmten öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (zB Bauverfahren) kann alternativ eine ordentliche (Einheits)beschwerde gem Art 82 BGG erhoben werden; die Beschwerde ist zulässig, wenn die letztinstanzliche Behörde eine das Verfahren abschliessende Entscheidung getroffen hat (Art 90 BGG). Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann insbesondere geltend gemacht werden, der angefochtene Entscheid verletze Bundesrecht (dh auch Grundrechte der BV) und kantonale verfassungsmässige Rechte (Art 95 lit a und c BGG). Die Anwendung des sonstigen kantonalen Rechts überprüft das Bundesgericht jedoch nur auf Vereinbarkeit mit dem Bundesrecht, ua mit dem Willkürverbot gemäss Art 9 BV.[28]
Anders als bei der Verfassungsbeschwerde besteht an die Legitimation keine besondere Anforderung (Art 89 BGG). Der Beschwerdeführer kann, wenn er Partei im vorangehenden Verfahren war, jederzeit auch einen Verstoss gegen das Willkürverbot geltend machen (Art 95 BGG). Es ist gesetzlich lediglich erforderlich, dass der Beschwerdeführer durch die angefochtene Entscheidung «besonders berührt» ist und ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung oder Änderung hat.
Zur Beschwerdefrist vgl Art 100 BGG. Hinsichtlich der Entscheidung vgl das zuvor Gesagte hins Art 107 BGG.
5.3. Verbindendes
Das Bundesgericht wendet das einschlägige Recht von Amts wegen an (Art 106 Abs 1 BGG). Es prüft die bei ihm angefochtenen Entscheide grundsätzlich nur auf Rechtsverletzungen hin, die von den Beschwerdeführern geltend gemacht und begründet werden (vgl Art 42 Abs 2 BGG). Die Beschwerde muss sich mit dem angefochtenen Entscheid auseinandersetzen; rein appellatorische Kritik ist unzulässig. Erhöhte Anforderungen an die Begründung gelten, soweit die Verletzung von Grundrechten gerügt wird (Art 106 Abs 2 BGG).[29]
Das Bundesgericht legt seinem Urteil den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt zugrunde (Art 105 Abs 1 BGG), es sei denn, dieser sei offensichtlich unrichtig oder beruhe auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art 95 BGG (vgl Art 97 Abs 1 und Art 105 Abs 2 BGG). Sollte ein Beschwerdeführer keine Sachverhaltsrügen erheben, sind die tatsächlichen Feststellungen der letzten Instanz für das Bundesgericht verbindlich.
6. Resümee
Anders als die Nachbarstaaten hat die CH-Bundesverfassung kein eingeständiges Verfassungsgericht eingerichtet. Die Aufgabe als «funktionelles Verfassungsgericht» ist nach den Vorgaben der BV bzw des BGG durch das Bundesgericht neben seiner Rolle als oberste rechtsprechende Instanz in Zivil-, Strafsachen und öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten wahrzunehmen.
Betroffene können auf zwei Wegen behauptete Verstösse gegen das Willkürverbot geltend machen, wobei insbesondere die subsidiäre Verfassungsbeschwerde gem Art 113 ff BGG hervorzuheben ist, die dort greift, wo keine ordentliche Beschwerde gem Art 72 ff BGG statthaft ist.
Ähnlich wie in den Nachbarstaaten der Schweiz kommt dem Willkürverbot auch nach dem Willen des CH-Verfassungsgesetzgebers nur «Auffangfunktion» zu. Entscheidend ist, dass die CH-Bundesverfassung in ihrem Art 9 ein eigenständiges Grundrecht der «Freiheit von staatlicher Willkür» vorsieht. Das hat, gemessen an der Judikaturentwicklung der Verfassungsgerichte Liechtensteins oder Österreichs, den systematisch und verfassungspolitischen «Vorteil», dass das Bundesgericht keine «schwerwiegenden Ableitungen» bestimmter Inhalte aus dem Gleichheitssatz (mehr) vornehmen muss, die zudem methodisch nicht immer nachvollziehbar sind und überzeugen.
Wertet man die Rechtsprechung des CH-Bundesgerichts zum Willkürverbot aus, zeigt sich als Essenz, dass sich die Zulassungspraxis des Gerichts in den letzten Jahren, etwa in Einbürgerungssachen, gelockert hat.[30] Allerdings zeigt die Rechtsprechung des Gerichts, vergleichbar etwa der Spruchpraxis des liechtensteinischen StGH, dass das Grundrecht «Willkürverbot» eben nur subsidiären Charakter hat. Dementsprechend ist die nachprüfende Kontrolle des Bundesgerichts auf eine Grobprüfung und Vertretbarkeitskontrolle beschränkt.
[1] Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV), SR 101.
[2] Art 9 BV positiviert einen weiteren, aus dem Prinzip von Treu und Glauben resultierenden grundrechtlichen Anspruch. Diese Verbürgung wird durch den rechtsstaatlichen Grundsatz gem Art 5 Abs 3 BV ergänzt. Auf diesen Aspekt ist im Anschluss nicht einzugehen.
[3] Botschaft BV BBl 1997 I 144.
[4] BGE 127 I 54 E 2.
[5] Häfelin/Haller/Keller/Thurnherr, Schweizerisches Bundesstaatsrecht9 (2016) Rz 807.
[6] Uhlmann, Das Willkürverbot (Art 9 BV) [2005] Rz 337.
[7] Vgl Müller, Grundrechte in der Schweiz3 (1999) 469 f; N. Raschauer, Zweck und Reichweite der Willkür- und Vertretbarkeitskontrolle des Staatsgerichtshofes, SPWR 2021, 27. Das BG hatte in einem ersten Schritt entschieden, es verstosse gegen die Rechtsgleichheit des Art. 4 BV aF, wenn dem Beschwerdeführer der Zugang zum gesetzlichen Richter verwehrt werde (formelle Rechtsverweigerung). In einem zweiten Schritt stellte das Bundesgericht fest, es sei ebenfalls von einem Verstoss gegen Art. 4 aBV auszugehen, wenn sich der gesetzliche Richter auf einen Rechtsfall zwar einlasse, aber seine Entscheidung auf völlig unhaltbare Motive stütze oder das anzuwendende Recht krass missachte (materielle Rechtsverweigerung).
[8] StGH 1998/45. Krit N. Raschauer, SPWR 2021, 27.
[9] Thürer, Das Willkürverbot nach Art 4 BV, ZSR 1987, 413 (434), mit Verweis auf Hangartner, Grundzüge des schweizerischen Staatsrechts, Bd 2 (1982) 196; StGH 1998/45, Erw 4.1.
[10] Vgl etwa Art 7 B-VG oder Art 3 dt GG.
[11] Vgl zB BG 129 I 232 E 3.4.2: „Wer staatliche Aufgaben wahrnimmt, ist gemäss Art. 35 Abs. 2 BV an die Grundrechte gebunden und verpflichtet, zu ihrer Verwirklichung beizutragen“.
[12] Vgl etwa im Zusammenhang mit Einbürgerungsverfahren Ullmann, Willkür Rz 266; BGE 129 I 232 E. 3.3.
[13] BG 129 I 1 E. 3.
[14] BGE 134 I 23 E. 8; 131 I 1 E. 4.2; 129 I 1 E. 3.
[15] Vgl zB BG 129 I 1, E 3: «Ein Erlass ist willkürlich, wenn er sich nicht auf ernsthafte sachliche Gründe stützen lässt oder sinn- und zwecklos ist; er verletzt das Rechtsgleichheitsgebot, wenn er rechtliche Unterscheidungen trifft, für die ein vernünftiger Grund in den zu regelnden Verhältnissen nicht ersichtlich ist, oder Unterscheidungen unterlässt, die sich aufgrund der Verhältnisse aufdrängen, wenn also Gleiches nicht nach Massgabe seiner Gleichheit gleich und Ungleiches nicht nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich behandelt wird. Vorausgesetzt ist, dass sich die ungerechtfertigte Gleich- bzw. Ungleichbehandlung auf eine wesentliche Tatsache bezieht (BGE 124 I 297 E. 3b; BGE 123 II 16 E. 6a). Dem Gesetzgeber verbleibt bei der Verfolgung gesetzgebungspolitischer Ziele und der dazu eingesetzten Mittel ein weiter Gestaltungsspielraum (BGE 124 I 297 E. 3b; BGE 121 I 102 E. 4a; BGE 110 Ia 7 E. 2b)».
[16] BGE 1C_252/2018 E 2.6.
[17] Anders, als dies etwa im Anwendungsbereich des Art 8 BV (Gleichheitssatz, Diskriminierungsverbot) der Fall ist: BGE 122 I 349 E.4b und BGE 114 Ia 1 E.3, E.8.
[18] BGE 137 I 1 E. 2.4; BGE 138 I 305 E 2.4.
[19] Kiener/Kälin/Wyttenbach, Grundrechte (2018) 411.
[20] BGE 1D_1/2019 E. 3.
[21] Kiener/Kälin/Wyttenbach, Grundrechte (2018) 414.
[22] Tschentscher, Art 9 N 3 in Basler Kommentar zur Bundesverfassung (2015); Rohner, Art 9 Rz 7 in St. Galler Kommentar zur Bundesverfassung3 (2014).
[23] Vgl zB BGE 1C_252/2018 E 4.3.
[24] BGE 94 I 65 ua.
[25] BGE 138 I 305 E. 1.3 mV auf BGE 133 I 185. E 6.1.
[26] Bundesgesetz über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG), SR 173.110.
[27] Vgl zB BGE 1D_7/2017; 1D_4/2018.
[28] BGE 142 II 369 E. 2.
[29] BGE 133 II 249 E. 1.4.2.
[30] BGE 129 I 217; BGE 129 I 232 ua.