Das Willkürverbot des StGH und ausgewählte kontextierte Prozessgrundsätze der österreichischen und liechtensteinischen ZPO
Der fürstlich-liechtensteinische Staatsgerichtshof prüft im Rahmen des verfassungsrechtlich nicht verankerten Willkürverbotes Entscheidungen des fürstlichen Obersten Gerichtshofes, nachdem die Streitfälle bereits drei Instanzen nach dem Verfahrensregime der Zivilprozessordnung (flZPO) durchliefen.
Er kann dabei die Feststellungen des Urteils ändern oder dieses kassieren und aufheben. Die Gedanken der folgenden Seiten beschäftigen sich mit den Grundsätzen der freien Beweiswürdigung, dem Beweismass, dem Neuerungsverbot und der Prozessökonomie der österreichischen Zivilprozessordnung, welche Pate der flZPO ist, und artikulieren Gedanken dazu, inwieweit der flStGH diese Grundsätze durch seine Prüfung allenfalls kontrastieren könnte.
Stichworte: Freie Beweiswürdigung, Regelbeweismass, Ermessen, Neuerungsverbot, Prozessökonomie, Verfahrenskonzentration, Zivilprozess, Oberster Gerichtshof, Staatsgerichtshof, Liechtenstein.
Einleitung
Der Staatsgerichtshof (flStGH; in Folge StGH) des Fürstentum Liechtenstein nimmt im Rahmen einer Vertretbarkeitskontrolle anlassbezogen durch eine Verfassungsbeschwerde (Individualbeschwerde) die Prüfung von Urteilen der ordentlichen Gerichtsbarkeit vor.[1] Dazu bedient er sich des Willkürverbotes, welches im Wesentlichen einem ungeschriebenen Grundrecht gleichkommt und das Ziel verfolgt, Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes (flOGH) im Rahmen der Individualbeschwerde[2] aufzuheben, um vor offensichtlichem Unrecht, das in einem Rechtsstaat nicht zu tolerieren ist, zu schützen.[3] Auch wenn das Verhältnis der beiden obersten Gerichte iS einer einer „philosophischen Gelassenheit“ sachlich-professionell ist,[4] so wirft die Praxis des StGH dennoch zivilprozessuale Fragen auf.
Nach ständiger Rechtsprechung gibt es im Individualbeschwerdeverfahren vor dem StGH ein grundsätzliches Neuerungsverbot.[5] Der StGH begründet dies so, dass er als Verfassungsgericht keine weitere Rechts- und Tatsacheninstanz im vorangegangenen Instanzenzug ist. Die Individualbeschwerde soll damit keine weitere instanzenartige volle Tatsachen- und Rechtsprüfung eröffnen.[6] Also prüft der StGH im Individualbeschwerdeverfahren die vorgelegte Entscheidung lediglich darauf, ob gegen ein verfassungsmässig garantiertes Grundrecht verstossen wird.
Dazu kann der StGH ergänzende Beweise aufnehmen und Tatsachenfeststellungen treffen. Die Parteien sind angehalten, keine Tatsachen (mehr) zu behaupten, die keinen Bezug zum Individualbeschwerdeverfahren haben.[7]
Die Entscheidung des StGH betrifft damit die Frage, ob die letzte ordentliche Instanz auf „Grundlage des für sie ersichtlichen Sachverhalts eine verfassungskonforme Entscheidung getroffen hat“. Ein über diese (letztinstanzliche) Tatsachenbasis hinausgehendes Vorbringen[8] beachtet der StGH nicht.[9] Eine Entscheidung des StGH bindet in Folge sodann sämtliche Behörden des Landes und der Gemeinden, also auch die Gerichte (Art 54 StGHG – Gesetz über den Staatsgerichtshof).[10]
Im Rahmen dessen ist zu ergründen, was die Zivilprozessordnung (ZPO) als einfachgesetzliche Verfahrensordnung vorab leistet und ob das „System-ZPO“ eine solche Prüfung des StGH überhaupt tunlich erscheinen lässt, insbesondere da die öffentlichrechtliche Verfahrensordnung des Staatsgerichtshofes in Art 49 Abs 2 StGHG festschreibt, dass der Gerichtshof die Verhandlung zur Ergänzung des Sachverhaltes wieder eröffnen kann, wenn in der Beratung hervorkommt, „[…] dass auf Tatsachen Bezug genommen werden soll, die weder Gegenstand der Verhandlung […]“ waren oder Feststellungen fehlen, die sich nicht „[…] aus den Akten gebildet haben […].“
In „gefestigte Eigentumspositionen“ greift der StGH nach seiner Ansicht nicht ein, da sich im Zivilverfahren gleichwertige Vermögensinteressen der streitenden Parteien gegenüberstehen, sondern er prüft nur die blosse „Willkür“.[11]
Willkür wird begrifflich negativ konnotiert und als eine unsachliche Anwendung von Recht interpretiert. Die juristische Beschreibung von Willkür bereitet dabei schon Probleme, da es sich um keinen Rechtsbegriff handelt. Auch wenn Art 5 Abs 1 EMRK den Schutz vor Willkür in Bezug auf Haft- und Verhaftung festschreibt,[12] so ist aus der Rsp des EGMR soweit keine einheitliche Begriffslinie ersichtlich.[13]
Der öOGH bezeichnet Willkür als eine Beschlussfassung ausserhalb des Rahmens pflichtgemässen Ermessens.[14] Nach der Auffassung des StGH beinhaltet dies vor allem die offensichtlich unhaltbare rechtliche Beurteilung eines Sachverhaltes oder eine krasse Aktenwidrigkeit.[15] Gerade der letzte Punkt gibt dem StGH Anlass und Möglichkeit, neue Feststellungen zu treffen bzw an Stelle des Ermessens des vorherigen Gerichtes sein eigenes zu stellen, allenfalls sogar Verfahren um Beweiserhebungen zu ergänzen, obwohl diese Rechtssachen den originär dreigliedrigen zivilprozessualen Instanzenzug zum OGH schon vollends durchschritten haben.[16] Diese Bestimmung samt der eingehenden Prüfpraxis des StGH machen ihn damit, trotz anderer eigener Bekundung, keine vierte Instanz zu sein, zu einer Art weiteren Tatsacheninstanz.
Diese Prüfansicht des StGH gilt es im Folgenden mit ein paar Grundsätzen der Systematik der ö und fl ZPO abzugleichen, da der StGH alle letztinstanzlichen zivilgerichtlichen Entscheidungen, die enderledigend sind, dadurch kontrollieren und vor allem ergänzen kann.[17] Ohne vorausgreifen zu wollen, wird man aber generell die Ansicht vertreten können, dass die Auslegung ein- und derselben Gesetzesstelle durch verschiedene Gerichte, welcher Art immer, jedenfalls variieren kann, ohne dabei gleich Willkür zu sein.[18]
Die flZPO ist ihrem Wesen nach eine Rezeption ihres (ursprünglichen) österreichischen Pendants.[19] Dem fl Gesetzgeber ist dabei, genau wie dem ö Gesetzgeber, die Verfahrensdauer und die parteiliche Kostenbelastung ein zentrales Anliegen, wobei in Liechtenstein einer gewissen Wirtschaftlichkeit des Zivilprozesses sogar der Vorzug gegeben wird.[20] Jedenfalls ist die Beschleunigung und Vereinfachung des Verfahrens der flZPO ein wesentliches und reformbedürftiges Anliegen, da dem Gesetzgeber bewusst war, dass es die Garantie eines drei- (oder vier-) -gliedrigen Instanzenzuges weder durch Art 6 EMRK noch durch Art 43 der flLandesverfassung (LV) gibt. Die Frage, welche Prüfmöglichkeit(en) einer Partei offen stehen, stellt damit auch iS eines materiellen Grundrechtsverständnisses sowie des effektiven Rechtsschutzes eine der Verhältnismässigkeit im öffentlichen Interesse dar. Art 43 LV garantiert dabei nur die Überprüfung einer Entscheidung durch ein Rechtsmittel an eine Prüfinstanz mit voller sachlicher und rechtlicher Prüfbefugnis. Dies ist nach der flZPO bereits das Obergericht (OG) im Rahmen des Berufungsverfahrens. Ein Weiterzug ist also nach Art 43 LV nicht garantiert.[21] Nur um verfassungsmässige Bedenklichkeiten vorweg auszuräumen.
Dass die weitere Überprüfung durch den StGH bei „groben Fehlern“ aber gängige Praxis und weniger die Ausnahme ist, ergibt sich auch aus dem Verständnis des Gesetzgebers über den zivilen Instanzenzug.[22]
1. Richterliche Willkür durch die Zivilprozessordnung
Der Zivilprozess als Austragungsort zuwiderstreitender Parteieninteressen blickt seit Jahrhunderten auf eine Tradition des Beweises und Gegenbeweises zurück. Die öZPO hat sich dabei zwei prozessfördernden Grundsätzen verschrieben: Der freien Würdigung der Beweise durch den Richter nach unmittelbarer Beweisaufnahme und der Prozessökonomie. Schnelle(re) Verfahren auf Kosten der Rechtsgenauigkeit eröffnen dadurch natürlich ein Spannungsfeld, wobei sich der öOGH[23] bereits dafür entschied, diese zu Gunsten der Prozessökonomie auch hintanzustellen.[24] Diese Genauigkeit meint nun aber nicht „Schlampigkeit“ oder Oberflächlichkeit, sondern ein vernünftiges Mass an Menschenmöglichem, was den Umfang und die Erörterung einer Rechtssache betrifft. Ziel der Prozessökonomie ist es vornehmlich, Klagehäufungen und dauernde Prozessreigen zu vermeiden, um den Rechtsfrieden möglichst schnell und unmittelbar herzustellen.[25]
Einer der (einfachgesetzlichen) Grundsätze der ö und fl ZPO ist damit das Institut der „freien Beweiswürdigung“. Der erkennende Richter hat unter sorgfältiger Berücksichtigung und Abwägung der Ergebnisse der gesamten Verhandlung[26], die durch die Beweismittel[27] hervorgekommenen und herausgearbeiteten Beweisergebnisse nach seiner freien Überzeugung zu beurteilen und zu würdigen. Daraus erarbeitet der Richter eine innere Überzeugung, ob eine Tatsachenbehauptung der Parteien für wahr zu halten ist oder nicht bzw. ob sie nicht festgestellt werden kann.
Die freie Beweiswürdigung ist daher seit ca 125 Jahren eines der Kernelemente eines rechtsstaatlichen zivilprozessualen Verfahrens. Der Staat überträgt damit seinen Richtern die Aufgabe und Verantwortung, nach unmittelbarer Beweisaufnahme, also nachdem sie sich ein „Bild“ von der Sache gemacht haben, den Sachverhalt vor allem eigenständig festzustellen. Diese Tatsachenfeststellungen bilden in der Folge das in der Enderledigung abzubildende notwendige Tatsachen-Substrat, um im Rahmen der rechtlichen Beurteilung die sich ergebenden Rechtsfolgen zu subsumieren. Die Lösung der Tatsachenfrage ist damit weitaus wichtiger als die Lösung der Rechtsfrage.[28]
Daher hat der Staat das Zivilverfahren von legalen Beweistheorien, wie sie in den Vorgänger-Zivilprozessordnungen in Ö und FL (AGO, WGGO)[29] vorgeherrscht haben, befreit.[30] Legale Beweistheorien sind dabei nicht unbedingt eine „Hundeleine“ für den Richter, sondern hatten eine ganz pragmatische Herkunft: Da die meisten Richter zwar Lesen und Schreiben konnten, aber juristische Laien waren, wollten die Verfahrensordnungen der Habsburger-Monarchie eine „Anleitung“ schaffen, die es auch einer rechtswissenschaftlich nicht vorgebildeten Person ermöglichen sollte, zu einem (möglichst) sachgerechten Urteil zu finden. Mit den etablierten juristischen Ausbildungen an den Universitäten[31] wurde den Richtern mit der öZPO 1895 und der flZPO 1912 die freie Beweiswürdigung übertragen.[32] Der Richter bildet sich damit seine Meinung – er „kürt“ seinen „Willen“. Dies ergibt weitaus schnellere Verfahren.
1.1. Der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung
Der flOGH folgt in seinen Entscheidungen zur freien Beweiswürdigung grds dem Beweisrecht der öZPO.
Die Überzeugung des Richters von der Richtigkeit eines Beweises ist die urspr aus dem französischen Strafprozess herkommende conviction intime,[33] ein sich tief im Bewusstsein des jeweiligen Richters abspielender Vorgang, der, da es ja eine innere Überzeugung ist, grds jeder Kontrolle entzogen war. Das Institut war aber nie als eine Form der Willkür gedacht, sondern richtete sich, ganz im Gegenteil, an ein hohes Ideal an Gewissenhaftigkeit und Rechtschaffenheit durch den Urteilenden.[34] Die Einführung der freien Beweiswürdigung in Österreich und Deutschland geht auf die Verfolgung des Grundsatzes durch Willhelm Endemann zurück, der die Beweislehre des 19. Jahrhunderts bereits 1863 als „unbefriedigend“ zeichnete.[35] Erst 1895 wurde die freie richterliche Beweiswürdigung in der öZPO generell für das Zivilverfahren verankert, nachdem der Deutsche Juristentag am 26. August 1863 in einer zaghaften Mehrheit den Antrag formuliert hatte, sich für die freie Überzeugung des Richters auszusprechen.[36]
Seine Herkunft leitet § 272 öZPO[37] vom Bagatellverfahren[38] ab.[39] In unbedeutenderen Streitigkeiten, ua auch in der Friedensgerichtsbarkeit, hatte der Staat bzw die Staatsgewalt den Richtern seit jeher die Ausübung freier Überzeugung und die Ausübung von Ermessen einfach aus Kostengründen übertragen.
Ein Bagatellverfahren, also ein Verfahren, bei dem das Beweismass definitiv herabgesetzt ist und bei dem dem Richter die Beweiswürdigung völlig alleinig im Ermessensbereich übertragen wurde, um als staatliche Aufgabe[40] den Rechtsfrieden so schnell als möglich herzustellen, kennen die ö und fl ZPO – abseits der Bagatellberufung – nicht. Nur in § 273 ZPO sind für die Ermessensausübung des Richters iS eines Bagatellverfahrens noch Ansätze erkennbar. Dabei hat Trenker herausgearbeitet, dass solch ein „Bagatell“-Verfahren wesentliche Zwecke der Rechtsordnung bedienen würde: Einerseits schliessen schnelle Verfahren den Hang der Rechtsunterworfenen nach Selbsthilfe aus, andererseits dienen sie der Gerichtsentlastung, da diese Verfahren schneller abgehandelt werden können und kostenintensive Beweisaufnahmen[41] (bspw Sachverständige) nicht benötigen.[42]
Ansätze zu solchen der Friedengerichtsbarkeit nahekommenden Verfahren verfolgen heutzutage bspw die europäischen Rechtsakte durch die Vorschreibung von Schlichtungs- und Ombudsstellen oder der Einrichtung von Behörden (bspw ADR-RL und das ö wie fl AStG).[43]
Ermessensentscheidungen haben nun uU eher den Ruf, die Ausübung von Willkür zu sein. Der öOGH hat dazu aber klargestellt, dass die Ausübung von Ermessen, da, wo es eingeräumt ist, schon begrifflich nicht gesetzwidrig sein kann.[44] Das Ergebnis einer Ermessensentscheidung ist ja immer noch mit der Rechtsrüge überprüfbar[45] und ob die Anwendung des § 273 öZPO gerechtfertigt war, mit Mängelrüge.[46] Nur Fälle nahe dem Missbrauch des Ermessens sind an den öOGH herantragbar und damit revisibel.[47] Schutz vor allfälligem überschiessendem und übereifrigem richterlichen Ermessen iS eines vollen Rechtsmittels geniesst die Partei im Zivilverfahren also.
Vom Exkurs aber zurück: Die Lehre zur Beweiswürdigung hat sich vornehmlich und sehr dicht in Deutschland ausgeprägt. In Österreich sind eher vereinzelte Beiträge dazu zu finden, vornehmlich wird auf die Ausführungen von Franz Klein zur ZPO rekurriert.
Die Beweiswürdigung hat nach der ö und fl ZPO in sich vollständig und geschlossen sowie widerspruchsfrei zu sein, sie darf keine Lücken aufweisen, nicht gegen gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse, Regeln der Logik und Erfahrungssätze verstossen und soll das substantiierte Vorbringen der Parteien abwägen. Ihr edelster Zweck ist die Wahrheitsfindung.[48] Da es in die Verantwortung des einzelnen Richters fällt, dem Einzelfall besonders Rechnung zu tragen und eine angepasste und massgerechte Abwägung vorzunehmen, wird die Beweiswürdigung eben nicht nach vorgesetzten Mustern abstrahiert. Der Richter gestaltet sie in seiner beruflichen Funktion aus.[49] Die Beweiswürdigung ist demnach die Beurteilung, ob ein bestimmter Sachverhalt durch apodiktische Schlüsse, bestehend aus einem Obersatz, Untersatz und Schlusssatz, als festgestellt, als zweifelhaft oder als widerlegt angesehen werden kann.[50]
Die Frage des Beweismasses ist folgend die wichtigste Frage der Beweiswürdigung und legt als Rechtsatz fest, wann ein Beweis als gelungen anzusehen ist.[51] Dazu haben sich die Überwiegenstheorie und die subjektive Beweismasstheorie gebildet.[52] Die herrschende öMeinung folgt der subjektiven Beweismasstheorie.[53]
Vor dem zivilprozessualen Beweis und Beweismass liegt vorgelagert das sehr weite Feld der Beweislast, die sich vorwiegend aus dem materiellen Recht ergibt. Zentral ist dabei also die Frage, welche Partei den Beweis zivilprozessual erbringen muss. Davon hängt weiters die Frage ab, inwieweit die Parteien ihrer Prozessförderungspflicht[54] iSd § 178 Abs 2 flZPO nachgekommen sind. Zusammenfassend ist damit die Substantiierungs- und Beweispflicht der Parteien der Motor des Zivilverfahrens.[55] Denn es kann in keinem zivilen Verfahren dem Richter ex officio obliegen, nach Beweisen und Gegenbeweisen für den Rechtsstandpunkt der Parteien zu forschen (Parteienmaxime).[56] Dies liegt in der Verantwortung der Parteien (Stoffsammlung).[57] Zur Pflicht des Richters wird die Stoffsammlung nur dann, wenn er im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes amtswegig den Sachverhalt zu ermitteln hat.[58]
Da der Richter die Beweise und den Geschehensablauf selbst würdigt, steht es ihm bspw auch frei, dem Geständnis einer Partei keinen Glauben zu schenken, wenn damit unrichtige Tatsachen festgestellt würden.[59] Die ö und fl ZPO bindet ihn gerade nicht daran.[60] Auch bei der Auswahl eines Beweismittels, nämlich der Bestimmung der Person des Sachverständigen, ist der Richter frei, um zu vermeiden, dass sich die Parteien ewig mit Gutachten und Gegengutachten beschäftigen.[61] Die Situation war in Liechtenstein bis zur Novelle 2018 anders, und konnten hier die Parteien die Bestellung der Person des Sachverständigen anfechten.[62]
Die Überprüfung der erstgerichtlichen Beweiswürdigung obliegt dem Berufungsgericht. Sie beinhaltet die Prüfung, ob sämtliche angebotenen Beweise aufgenommen und die aufgenommenen Beweise richtig beurteilt wurden[63] und vor allem, ob die (notwendige) Begründung ausreichend logisch und nachvollziehbar ausgearbeitet wurde.[64] Dass man aufgrund der Beweisergebnisse auch zu einem anderen Schluss und damit einer alternativen Feststellung gelangen hätte können, muss dabei irrelevant bleiben und ist schon gar nicht unrecht: Vielmehr hat der Erstrichter die Verhandlung und deren Ergebnisse unmittelbar erlebt, daher ist sein Wahrnehmen also immer unmittelbar authentischer und direkter als das der folgenden Instanzen.
Das schlagkräftigste Argument gegen eine freie Beweiswürdigung ist dabei die derselben immanente Begründungspflicht, da der Richter sich nicht mit formelhaften Phrasen („Kurialfloskel“)[65] aus der Affäre ziehen soll, sondern seine Gedankengänge nachvollziehbar offenzulegen hat.[66]
Tatsächlich konstatierte bereits Rechberger, dass der der Beweiswürdigung innewohnenden Begründungspflicht einerseits in der Disziplin des Zivilprozessrechtes, andererseits in der Praxis manchmal zu wenig Ernsthaftigkeit zukommt.[67]
1.2. Das Regelbeweismass und die Begründungspflicht als Handleitung für die freie Beweiswürdigung
Für die innere Überzeugung des Richters lassen sich generell – aber nicht ausschliesslich – drei Stufen der Überzeugung festlegen: Die einfache, die hohe und die sehr hohe Wahrscheinlichkeit.[68] Für diese Überzeugungsgrade hat die Judikatur das Regelbeweismass aufgestellt, das also den generellen Überzeugungsgrad des Richters festlegen soll. Es gibt demnach eben Erhöhungen und Senkungen dieses Masses.
Das Regelbeweismass ZPO ist die hohe und nicht eine an Sicherheit grenzende[69] oder bloss überwiegende[70] Wahrscheinlichkeit[71] (Überwiegenstheorie).[72] Der Jurist sollt sich bei der Bestimmung des Begriffs der Wahrscheinlichkeit an der Wahrscheinlichkeitslehre der Naturwissenschaften orientieren.[73] Bloss natuwissenschaftliche Wahrscheinlichkeit ist in Bereichen, in denen es bspw. um psychologische Werturteile[74] geht (Glaubhaftigkeit), aber uU kein unbedingt zuverlässiger Massstab.
Das Beweismass zeigt völlig abstrakt, wann ein Beweis gelungen ist. Die Beweiswürdigung offenbart den Parteien dann im Urteil, ob im konkreten Einzelfall eine Behauptung als wahr angesehen werden konnte und weshalb der Richter zu diesem Schluss gekommen ist. Es handelt sich dabei um zwei voneinander getrennte Positionen: Die Bestimmung des Beweismasses ist eine Rechtsfrage, die Beweiswürdigung ist eine Tatfrage. Der Begriff der Beweiswürdigung ist im Sprachgebrauch aber gängiger. Geipel setzte sich daher für die Bezeichnung „Beweis- und Verhandlungswürdigung“ ein,[75] da nicht nur Beweise im engeren Sinn gewürdigt werden, sondern der gesamte Tatsachenstoff und das Prozessverhalten der Parteien (bspw. Säumigkeit).[76]
Die Judikatur des öOGH zum Regelbeweismass fällt daher auch eher nicht in der wissenschaftlich und praktisch gewünschten „Schärfe“ aus, als es heisst: „Das Regelbeweismass der ZPO ist die hohe und nicht eine an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit; eine solche ist nur in den Fällen eines erhöhten Regelbeweismasses erforderlich.“[77] Ob dieses Maß generell mit einer Überzeugung zu beschreiben ist, nach der nur „wenige Promille zur Hundertprzentgrenze“ beim Überzeugungsgrad fehlen, ist wahrscheinlich iSd Wahrheitsüberzeugungstheorie zu streng formuliert und würde wohl nie einen Richter zu einer inneren Überzeugung führen.[78] Diese Sicherheit sieht der öOGH in Einklang mit der Lehre[79] als ausreichend für die Erbringung eines Beweises an.[80]
Der öOGH folgte den wissenschaftlichen Anregungen und hat die Begründungspflicht des Richters besonders hervorgeheben, indem er sagte, dass in den Tatsachenfeststellungen eines Urteils aber eindeutig zum Ausdruck kommen muss, ob ein bestimmter, für die Entscheidung wesentlicher Umstand festgestellt wird oder dass eine solche Feststellung nicht möglich ist, weil der Umstand nicht mit dieser hohen Wahrscheinlichkeit des Regelbeweismasses als erwiesen angenommen werden kann.[81] Der Richter hat also seine von ihm herangezogenen Erfahrungssätze zu offenbaren.[82] Dabei wurde anerkannt, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit keine objektive Grösse darstellt, sondern dem Regelbeweismass „eine gewisse Bandbreite“ innewohnt. Es hängt damit von den objektiven Umständen des Anlassfalles aber auch von der subjektiven Einschätzung des Richters ab, wann diese hohe Wahrscheinlichkeit eingetreten ist.[83]
Die Würdigung der Beweisergebnisse wird, obwohl sie praktisch eine zentrale Rolle einnimmt, im „Grundsatz der freien Beweiswürdigung“ nur randständig erwähnt.[84] Heranzuziehen hat der Richter daher wohl seine persönliche Lebenserfahrung, das von ihm erworbene Spezialwissen und den durchschnittlichen Erfahrungs- und Wissensschatz eines verständigen Menschen aus dem örtlichen bzw fachlichen Lebenskreis des Sachverhaltes.[85]
Die deutsche Judikatur und Lehre geht in der dtZPO[86] in § 286[87] seit dem 19. Jahrhundert und einem reichsgerichtlichen Erkenntnis aus 1884[88] ebenso von einer hohen Wahrscheinlichkeit[89] aus, detailliert aber: „Deswegen gilt im praktischen Leben der hohe Grad von Wahrscheinlichkeit, welcher bei möglichst erschöpfender und gewissenhafter Anwendung der vorhandenen Mittel und Erkenntnisse entsteht, als Wahrheit und Bewusstsein des Erkennenden von dem Vorliegen einer so ermittelten hohen Wahrscheinlichkeit, als die Überzeugung von der Wahrheit“.[90]
Diese Judikatur findet sich in ständiger Anpassung und Angleichung,[91] wobei besonders der Versuch der Angleichung an die tatsächlichen Lebensverhältnisse hervorsticht und nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschliessen, fordert.[92]
Der verhandlungsführende Richter muss so zur persönlichen Überzeugung kommen, womit immer eine stark subjektive Komponente in die Sachverhaltsfrage einfliesst. Lebenswahrscheinlichkeiten sind darin miteinzubeziehen.[93] Eine Einheitlichkeit und Vorgabenintensität durch höchstrichterliche Rechtsprechung verbietet sich damit auch von selbst, da die Begriffe der Wahrscheinlichkeit und das Beweismasses doch die subjektive innere Überzeugungskomponenten des entscheidenden Zivilrichters in der gesetzlich vorgegebenen Freiheit belassen und ihn ansonsten wiederum einschränken würden.[94]
Die Begründungspflicht und somit die Nachvollziehbarkeit des Gedankenganges des feststellenden Richters machen aber eben dann die Tatsachenfeststellungen über Rechtsmittel angreifbar, da darin aufgezeigt werden kann, welche Schlüsse das Gericht fälschlich oder gar nicht getroffen hat, auch wenn die Wahrheitsfindung durch den Richter Gesamtheitlich ja immer nur eine relative sein kann.[95]
Eine Bekämpfung der Beweiswürdigung hat nach statistischen Erhebungen weder in Österreich noch in Deutschland grosse Aussicht auf Erfolg, wenn die erstrichterliche Begründung grds nachvollziehbar ausgestaltet wurde.[96] Der richterliche Begründungsmangel kann im Rechtsmittel der Berufung einerseits über den Berufungsgrund des sonstigen wesentlichen Verfahrensmangel (Zurückverweisung des Urteils an die erste Instanz) oder der unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung (allfällige Änderung der Feststellungen durch das Berufungsgericht nach Beweiswiederholung) angefochten werden.[97] Die falsche Anwendung von Erfahrungssätzen (Beweiswürdigung) ist sodann nicht mehr revisibel[98] und an den öOGH herantragbar.[99]
Die Lösung der Rechtsfrage hängt sohin zentral mit der Sachverhaltsermittlung und -würdigung zusammen. Die Prüfung der Rechtslage setzt natürlich denknotwendige Wahrheitsprüfung vorab voraus.[100]
Die öZPO setzt aber einer uferlosen Ergründung des Sachverhaltes eine strenge Schranke. Die flZPO macht dies im Vergleich zu anderen Zivilverfahrensordnungen auch: Das Neuerungsverbot.
1.3. Das Neuerungsverbot der öZPO als Schranke des Beweisantrages
Das Neuerungsverbot (auch Novenverbot oder Novationsverbot) ist eine der zentralsten, wenn nicht die wichtigste Kennzeichnung der öZPO: Es verhindert, dass Beweisfragen bis in die hohe Instanz „mitgezogen“ werden und bewirkt dadurch eine Verfahrenskonzentration für die Beweisaufnahme vornehmlich in der ersten Instanz bzw in FL in der ersten und zum Teil auch in der zweiten Instanz.
Die weiteren Instanzen sollen dann, aufbauend auf einem abschliessend festgestellten Sachverhalt die Rechtsfrage lösen. Die Feststellungen des Erst- (bzw Zweit-)gerichtes werden damit zur Ausgangsbasis aller weiteren rechtlichen Überlegungen. Zudem haben sich die Parteien in ihrer Prozessförderungspflicht und was die Feststellung des Sachverhaltes betrifft, in den ersten Instanz auszutauschen. Damit sollen vor allem „Überraschungsbeweise“, die aus Prozesstaktik oder Nachlässigkeit zurückgehalten wurden, den Sachverhalt später nicht mehr ändern (können).[101]
Das Neuerungsverbot unterbindet in der öZPO, dass nach dem Schluss der Verhandlung erster Instanz neue Tatsachen vorgebracht werden. Die Entscheidungsgrundlagen und Beweise, die den rechtserheblichen Sachverhalt beinhalten, sind und sollten bei Abschluss der mündlichen Verhandlung also vorliegen (§ 482 ZPO), was die Gesamtdauer von Zivilprozessen erheblich verkürzt. Die Erhebung der Berufung ist daher auf die in der ersten Instanz vorgebrachten und vor allem von den Parteien beantragten Beweismittel beschränkt und dient damit vornehmlich, den Sachverhalt festzustellen.
Die Nachholung rechtserheblicher Feststellungen ist dem Berufungsgericht aber im Rahmen des „sekundären Feststellungsmangels“[102] möglich, wenn rechtserhebliche Tatsachen von der Erstinstanz nicht erörtert (bzw. festgestellt) wurden.[103]
Das System der ZPO geht sogar soweit, bei den Berufungsgründen die Tatsachenfeststellungen in Bagatellsachen[104] durch Berufung nicht mehr angreifbar zu machen. Die Parteien müssen mit dem vom Erstgereicht festgestellten Sachverhalt weiter „arbeiten“.[105]
Ähnliche Pflichten ergeben sich aus der notwendigen Rüge von Verfahrensmängeln in der ersten Instanz, ansonsten können diese in der Berufung nicht geltend gemacht werden, da der erstinstanzliche Richter den Verfahrensmangel ohne Rüge (also wegen dem Schweigen der Parteien) nicht mehr beheben kann.[106]
Es ist sodann in keiner Weise mehr Aufgabe der zweiten und schon gar nicht der dritten Instanz, Tatsachenfeststellungen aufgrund von Parteianträgen nachzuholen.[107]
1.4. Beschränktes Neuerungsverbot in der flZPO
Die vom fl Landgericht (LG) gefällten Sachentscheidungen können im Instanzenzug, mit Ausnahme der Bagatellsachen, mittels Berufung an das Obergericht und dann die Berufungsentscheidung des Obergerichtes mittels Revision zum Obersten Gerichtshof angefochten werden. Der Drei-Instanzenzug an sich trägt schon zur Verfahrensdauer bei.[108]
Liechtenstein kennt kein grds Neuerungsverbot im Verfahren vor dem fl Obergericht. Nur der fl Oberste Gerichtshof (flOGH) entscheidet als reine Rechtsinstanz.[109] Eine Verfahrenskonzentration und mögliche Verkürzung der Verfahrensdauer wurde durch eine Konzentration des Verfahrens beim fl Obergericht versucht.[110] Die Einschränkung von Noven im Berufungsverfahren ergab sich vorab aus § 453 Abs 3 der flZPO, wonach (zumindest) eine Klagsänderung im Berufungsverfahren unzulässig war und ist.[111]
Das „harte“ Neuerungsverbot der öZPO ist natürlich eher die Ausnahme als die Regel. Seine Sinnhaftigkeit ist mE aber nicht anzuzweifeln. Das FL ist daher einen Zwischenweg gegangen, und hat sich für ein beschränktes Neuerungsverbot entschieden, dessen Beibehaltung der Gesetzgeber eng verwoben mit der in FL fehlenden Anwaltspflicht im Verfahren sieht: Ein Neuvorbringen kann zurückgewiesen werden, wenn es in Verschleppungsabsicht[112] oder wegen unsorgfältiger Prozessführung erfolgt. Gesamt kann es im Berufungsverfahren dann zurückgewiesen werden, wenn es schuldhaft[113] nicht bereits früher erstattet wurde.[114] Dennoch können Parteien im Rechtsmittel und dessen Beantwortung noch neues Vorbringen samt Beweisanbot erstatten, nicht jedoch in der Berufungsverhandlung selbst. Der Gesetzgeber sieht darin keinen Grund für eine längere Dauer des Zivilverfahrens.[115]
Parallel dazu wurde die Pflicht des Erstrichters eingeführt, das Sach- und Rechtsvorbringen mit den Parteien aus Schutz vor Überraschungsentscheidungen in den prozessual relevanten Punkten zu erörtern (§ 182 flZPO), um nicht entscheidungsrelevante Beweiserhebungen zu vermeiden.[116] Dass dem fl Gesetzgeber die Verfahrensdauer und Kostenbelastung der Parteien ein offensichtliches Anliegen ist, wurde bereits erwähnt.
1.5. Zwischenfazit
Der Richter muss frei sein, die im Lichte unmittelbarer Prozessführung hervorgekommenen Beweise nach den Beweislastregeln, die seine einzige Einschränkung sein dürfen, zu prüfen. Legale Beweistheorien würden den Sachverhalt stets verzerren, da sie nahezu mathematisch vorgeben, zu welchem Ergebnis der Richter zu kommen hat und die Prozessführung verzögern würden.[117] Diese sind zudem mit einem rechtsstaatlich freien Verfahren nicht übereinzubringen.
Der Staat als Garant des rechtsstaatlichen Verfahrens für die Rechtsunterworfenen muss es daher im Vertrauen auf seine ausgebildeten Richter denselben überlassen, den notwendigen Sachverhalt aus ihren Augen unmittelbar zu beurteilen. Die Beschränkung von Beweisanträgen auf das erstinstanzliche bzw zweitinstanzliche Verfahren ist dabei eine notwendige Beschränkung, die Prozessförderung durch die Parteien zu motivieren und eine etwaige Prozesstaktik und Verzögerungen hintanzuhalten.
Die Parteien werden dadurch nicht in ihrem Recht auf Parteiengehör beschnitten, vielmehr wird der Grundsatz der Waffengleichheit damit umgesetzt und das Verfahren „angekurbelt“.
Dabei steht die Abhandlung der Beweiswürdigung nach freier Überzeugung und die Ausübung von Ermessen[118] völlig im Kontext der Prozessökonomie.[119] Aufwändige Beweisverfahren und Streitpunkte um Beweiswerte sollen dadurch ausgeschlossen werden, um ein straffes Verfahren zu gewährleisten.[120]
2. Der Grundsatz der Prozessökonomie und der Verfahrenskonzentration
Franz Klein wollte mit der ZPO eine Verfahrensordnung schaffen, die möglichst praktikabel, anwendungsfreundlich und für den Richter handhabbar ausgestaltet ist und sich in den prozessökonomischen Zielen zwischen einer „Trias“ aus Arbeitsaufwand (Effizienz), Prozessdauer (Raschheit) und Prozesskosten (Billigkeit) bewegt.[121]
Jedes gerichtliche Verfahren sollte daher einfach, rasch und kostensparend zu einem Ziel führen. Dieser rationelle Ansatz der Verfahrensgestaltung spiegelt sich auch in Art 6 Abs 1 EMRK wieder (Anm: angemessene Verfahrensdauer, Justizgewährungsanspruch[122]). Natürlich darf die Verfahrensökonomie (bzw in Dtld Prozesswirtschaftlichkeit[123]) iS einer Zweckmässigkeit nicht zu einer Beschneidung fundamentaler Rechte der Parteien führen (bspw des Parteiengehörs).[124]
Die Wirtschaftlichkeit und Effizienz eines Zivilprozesses wird in ihrer Bedeutung, vor allem aber in ihrer Vielschichtigkeit in den folgenden Zeilen sicher nicht abschliessend beantwortet werden können. Insbesondere ist sie ein Prinzip, das in nahezu jeder Lage des Verfahrens als Argument herangezogen werden kann, ohne sich dabei auf einzelne Normen zurückziehen zu müssen. Wesentlich erscheint aber, dass sie eine der Kernüberlegungen des zivilen Prozessführens ist und vor allem die Effizienz – und damit wohl auch Akzeptanz – des Zivilverfahrens zu stärken versucht, auch wenn ein „juristischer Effizienzbegriff“ wohl nicht zu fassen sein wird.[125]
Dass Klein aber mit der öZPO ein Institut geschaffen hat, dass soziologisch-ökonomische Erwägungen vereint, darf hier als Ausgangslage durchwegs angenommen werden.[126]
Folgende Regelungskomplexe spiegeln den Grundsatz dabei besonders wieder:
Schriftliche Eingangsphase und rascher Verhandlungsbeginn um den Prozessstoff ausreichend vorzubereiten und sich mit den Parteien sodann auf die Beweisaufnahmen zu konzentrieren.[127]
Amtsbetrieb: Gibt dem Richter Möglichkeiten an die Hand, den Prozess aus eigenem voranzutreiben, indem er für eine konzentrierte Prozessführung sorgt (bspw Ausschreibung von Tagsatzungen). Auch kann er Präklusionsregeln (Anm: Vorlage von Urkunden oder zu erstattendes Vorbringen bei sonstiger Übergehung) angemessen setzen.[128]
Prozessförderungspflicht: Diese obliegt den Parteien und sie haben an der raschen Erledigung der Rechtssache auch eine Mitwirkungspflicht (Handlungsobliegenheiten), um eine Verschleppung der Rechtssache zu vermeiden.[129] Daher ist iSd Eventualmaxime das gesamte Sachvorbringen bei erster Gelegenheit zu erstatten, was die Parteien dazu zwingt, alles von möglicher Relevanz sogleich vorzubringen (Anm: und unter Beweis zu stellen).[130]
Neuerungsverbot: Wesentlich ist für die Prozessökonomie, dass es den Parteien untersagt ist, die Stoffsammlung weiter als auf die erste (bzw in FL: zweite) Instanz auszudehnen.[131] Sie Stoffsammlung ist ausdrücklich beschränkt.[132]
Verletzungen dieser Verfahrensvorschriften können als Berufungspunkt des erheblichen Verfahrensmangels geltend gemacht werden.[133] Es mag natürlich Fälle geben, bei denen es sogar angezeigt scheint, gewisse strenge Auslegungen des Neuerungsverbotes ausser Acht zu lassen, und abzuwägen, ob eine allenfalls unzulässige Beweisaufnahme nicht eher der Prozessförderung entspricht.[134]
Die Prozessökonomie schlägt damit als Verfahrensgrundsatz des Zivilprozesses auch auf die verfassungsrechtliche Verhältnismässigkeit durch. In einem Zweck-Mittel-Denken[135] wird sie daher wegen des Selbsthilfeverbotes dem Staat auferlegen, ein zweckdienliches Verfahren zu installieren, dass es den Rechtsunterworfenen ohne grosse Belastung und Verzögerung ermöglicht, Recht und Gerechtigkeit herzustellen.[136] Dabei verfolgt der Zivilprozess stets die Kerngedanken des Rechtsfriedens,[137] des Ausschlusses der Selbsthilfe sowie der Förderung des Vertrauens in die Gerichtsbarkeit und die Akzeptanz des Rechtssystems (Rechtsverwirklichung).[138]
Diese Prozessgrundsätze sind nun keine zufällige Aneinanderreihung, sondern verwirklichen den Gedanken des Gesetzgebers zur Wahrung der Rechtsordnung und der Durchsetzung eigener Rechte. Der Staat „duldet“ das Übel einer Streitigkeit im geordneten Rahmen: Ein Prozess verzögert doch die sichere Rechtsausübung und vermehrt die Kosten des Staates durch zur Verfügungstellung des Justizapparates.[139] Der Konflikt zwischen den Prozesszielen, insb der Richtigkeit des Verfahrens und der Entscheidung, kann dabei nicht verhehlt werden. Koch sieht deshalb alleinig ökonomische Erwägungen als den Prozesszielen und -zwecken untergeordnet bzw nur dienend an.[140]
Im Zweifel sollte daher auf die rechtschutzfreundliche Interpretation der Prozesszwecke der ZPO, auch wenn sie im Konflikt mit der inhaltlichen Richtigkeit der Entscheidung aufgrund prozessökonomischer Erwägungen steht, nur als letzte Möglichkeit zurückgegriffen werden.[141] Die Prozessökonomie als Verfahrensgrundsatz der öZPO ist damit einer der zentralen Leitsterne des Zivilverfahrens, verfassungsrechtlich wird man sie wohl nur in Teilen als in Art 6 EMRK verankert argumentieren können.[142]
2.1. Prozessökonomie in Liechtenstein
Der liechtensteinische Gesetzgeber sieht die Prozessökonomie und Verfahrenskonzentration mEn als sehr zentrale Elemente des Zivilverfahrens an. Bereits die zweiwöchige Rekursfrist (ua Rechtsmittelfristen) wollte er aufgrund der Gefahr einer „deutlichen Verlängerung“ von Verfahren 2012 nicht erhöhen.[143]
Zur Verfahrensdauer kommt wegen der laufenden Vertretungs- und Gerichtskosten stets ein ökonomischer Aspekt hinzu. Für die Parteien ergibt sich damit die Frage, ob sie sich das Gerichtsverfahren überhaupt noch leisten können. In den Worten des fl Gesetzgebers: „Damit wird die Verfahrensdauer auch ein Problem des Zugangs zum Recht.“[144] Und auch des Verdienstes. Ein Gerichtssystem, das direkt oder indirekt einen Unterschied in der Behandlung ärmerer und reicherer Menschen macht oder machen kann, kann nie den Anspruch erheben, dem Gemeinwohl zu dienen.
Daher darf iSd Gesagten bereits hier schon auf die Gedanken Schädlers verwiesen werden, der in der flZPO die Gedanken Franz Kleins zur Prozessökonomie und Verfahrenskonzentration vollzogen und umgesetzt sieht (und diesen historisch normenbezogen nachgeht) und daher iW statuiert, dass die Prozessökonomie eine Prüfkategorie für den StGH darstellt.[145] Daher stellt sich bereits hier die Frage, inwieweit das Individualbeschwerdeverfahren in seiner Ausprägung prozessökonomisch erwägungsbedürftig scheint.
3. Der StGH und das Willkürverbot in Kollision mit Grundsätzen der ZPO?
Einen Vorwurf gegenüber dem StGH zu formulieren, dass er einem ungeschriebenen Grundrecht auf Schutz vor Willkür folgt, läge dem Autor fern. Gerade die inhaltliche und umfassende Rechtsrichtigkeit ist ja der Antrieb des Juristen zur Falllösung.
Doch die Kollision mit der Realität macht deutlich, dass gerade die Sammlung der Sachverhaltsgrundlagen die erheblichste Schwierigkeit aufzeigt und oft ungenügende derselben oder später hervorgekommene Umstände das Bild der materiellen Rechtsanwendung drastisch verändern können. Materiell richtige Entscheidungen sind natürlich einer der Prozesszwecke des Zivilverfahrens.[146]
Es stellt sich aber durchwegs die Abwägungsfrage, was schwerer wiegen soll: ein ökonomisches und damit auch schnell erreichbares Verfahrensziel mit einer den Rechtsfrieden schnell herstellenden Endentscheidung, oder die Ergründung der materiellen Wahrheit in all ihrem Facetten- und Tatsachenreichtum.
Ein anderes Gericht, nämlich der EuGH, bedient sich zwar auf anderen rechtlichen Fundamenten auch des Umweges, das Europarecht punktuell über individuelle Anträge von Rechtsunterworfenen anzuwenden und insbesondere in seinem Sinne auszulegen.[147] Auch dieses Ziel verfolgt der StGH, indem er Gesetze auslegt, um so einer Rechtseinheitlichkeit dienlich zu sein. Und dies kann ihm nun nicht negativ ausgelegt werden.
Fraglich ist aber, ob er dafür nach dreiinstanzlichen Zivilverfahren noch seine eigene Ansicht durch eigene Beweisaufnahmen und Rechtsänderungen als fachlich nicht einschlägiges Gericht einbringen soll. Dazu die folgenden Gedanken:
a) Der ö und fl ZPO liegt als zentralster Grundsatz jener der Prozessökonomie zugrunde: Die Herstellung des Rechtsfriedens in gangbarer juristischer Zeitdimension geht vor einer detaillierten Rechtsrichtigkeit. Zudem hat die flZPO bereits in ihrer eigenen Auslegung einen Schutz für die Verwirklichung bzw den „Vorrang“ des materiellen Rechtes implementiert, indem bei den Auslegungen jener Auslegung der Vorrang zu geben ist, die für die Durchsetzung des materiellen Rechtes günstiger ist (Verbot des überspitzten Formalismus bzw in der öZPO der Vorrang der Sacherledigung).[148]
Wie angezeigt, bietet die ZPO durch die freie Beweiswürdigung, dem Neuerungsverbot und dem Grundsatz der Prozessökonomie in verschiedenen Ausprägungen (Bagatellberufung,[149] Anscheinsbeweis, Ermessensentscheidungen) Verfahrensbeschleuniger. Beachtung verdient auch die Kostenbelastung der Parteien, wenn eine vierte Instanz sich zum Zivilverfahren zusätzlich einstellt.
Wenn durch aufwändige und möglichst tiefgreifende Erörterungen einerseits längere Verfahren und andererseits erhebliche Kosten (bspw Sachverständige) produziert werden, so wird der Zugang zum Recht für die Rechtssuchenden erheblich erschwert.[150] Die ZPO kennt damit durchwegs Institute, um das Verfahren zu beschleunigen, ohne dass dies sofort in Widerspruch mit Garantien des Art 6 EMRK stünde.[151] Auch wenn die Prozessökonomie ein Prinzip des Zivilverfahrens und damit kein Verfassungsprinzip[152] per se ist, so ist die Nähe und vor allem die Sinnhaftigkeit zur Umsetzung des Art 6 EMRK nicht zu verhehlen.
Vielleicht darf dem StGH nahegelegt werden, dass das zwar nicht mehr geltende, aber doch bekannte Prinzip von minima non curat praetor iS einer Opportunitätsbewertung anzuwenden und seine Prüfung lediglich auf gravierende Ungerechtigkeiten und Gesetzesverstösse anzuwenden – was auch die Folge haben kann, dass zu manchen Rechtssachen nicht mehr viel oder gar nichts zu sagen sein wird.
Prozessökonomisch ist die Abwägung naturgemäss schwer: Sollte der StGH dem Minimalprinzip folgen, also mit geringem Aufwand grösstmöglichen Nutzen erzeugen, oder dem Maximalprinzip, und damit aus den eingesetzten Ressourcen den grösstmöglichen Nutzen erzielen? ME ist, Pflughaupt folgend, auch für den fl Zivilprozess eine Kosten-Nutzen-Rechnung mit den Bezugsgrössen Geld und Zeit aufzustellen.[153]
Wie die Diskussion über das dt Bundesverfassungsgericht in zeigt, ist es stets heikel, wenn ein explizites Verfassungsgericht materiellrechtlich und formalrechtlich zu prüfen anfängt, da die verfassungsgemäss gewährleisteten Rechte nun einmal nicht vor einem speziellen „Fach“ halt machen.[154]
Insofern trifft es natürlich das Herz des Zivilrechtlers, wenn in einem gut austarierten Verfahren wie der (ö und fl) ZPO eine nachträgliche Verfassungsprüfung anderes ergibt, obwohl die im Vorfeld beteiligten Richter mit Sicherheit nach bestem Wissen und Gewissen entschieden und prozessgeleitet haben.
Nichtsdestotrotz macht sich der StGH, ähnlich dem deutschen Bundesverfassungsgerichtshof, durch seine Praxis aber zu einer letzten „Superrevisions- und Supertatsacheninstanz“.[155]
b) Mit der Prozessökonomie ist es mE zudem unvereinbar, wenn eine vierte Instanz, die keine sein möchte, nach einem dreiinstanzlichen Verfahren noch versucht, vorher schon abgewogene Rechtsansichten abseits vehementer Grundrechtsverletzungen herzustellen. Die Auslegung des jeweiligen Rechts sollte alleinig den Zivilgerichten vorbehalten bleiben, sie sind als Fachgerichte keine Vorinstanz eines Verfassungsgerichtes.
Wenn man denn eine vierte Instanz ausgestalten wollen würde, so wäre es unabdingbar, allen drei Vorinstanzen Möglichkeiten zur Sachverhaltsabklärung zu geben und die Tatsachenfeststellungen durch eigene Beweisaufnahmen zu ergänzen. Dieses System sieht die prozessökonomisch ausgestaltete ö und fl ZPO in keinerlei Weise vor.[156]
Dem flOGH ist es nämlich nicht mehr gestattet, Beweise aufzunehmen, er arbeitet als ausschliessliche Rechtsinstanz. Wenn der StGH sohin eine Tatsachenprüfung nachholt, müsste dieselbe Möglichkeit auch dem flOGH eingeräumt sein. Dass dann aber vier (!) Instanzen frei beweiswürdigen und feststellen wird jeden prozessökonomischen Erwägungen, allein wegen des damit verbundenen Verhandlungsaufwandes, zuwiderlaufen.
Eine Wiederholung der Rechtssache, insbesondere eines Beweisverfahrens, vor dem StGH erscheint daher aus prozessökonomischer Erwägung nicht mehr zulässig.[157]
c) Zudem stellt der StGH damit die freie Beweiswürdigung und das Beweismass der ZPO auf den Prüfstand, da es den Richtern, die unmittelbar an der Beweisaufnahme beteiligt waren, vorbehalten bleiben soll, die relevanten Feststellungen zu treffen. Die ZPO gibt es dem Richter nicht ohne guten Grund an die Hand, die Feststellungen aus seiner eigenen Wahrnehmung heraus zu treffen: Er hat die Parteien im Prozess erlebt, hat die gesamte Verhandlung erlebt und kann sich damit auf seine Unmittelbarkeit[158] stützen, die als Prozessgrundsatz wohl einen höheren Wert geniesst, als die abstrakte Möglichkeit, dass sich wegen einer Aktenwidrigkeit ein anderes Bild ergeben könnte und andere Feststellungen möglich wären.[159] Je nach Blickwinkel werden andere Feststellungen immer irgendwo möglich sein können.
Die Stoffsammlung ist nach der ZPO Sache der Parteien. Die Auswertung des gesammelten Prozessstoffes obliegt sodann dem erkennenden Richter. Davon macht die ZPO kaum Ausnahmen.[160]
Hier kollidiert die Verfahrensordnung der ZPO mit der „Ermessensersetzung“ des StGH besonders, da sozusagen das Recht auf eine Ermessensentscheidung auf den nicht unmittelbar prozessleitenden StGH „übergeht“.
Zudem fehlt, soweit ersichtlich, auch eine Abwägung des StGH, woraus die Substitution des Ermessens des Erstrichters verfassungsrechtlich abgeleitet wird, wenn im Kontext die „Tatsacheninstanzen“ durch Unmittelbarkeit, staatlich bestellten Richtern und hohem Ausbildungsgrad eine eigene Einschätzung getroffen haben.
d) Würde der StGH rekurrieren, er müsse wegen des Eingriffes in das Eigentumsrecht der betroffenen Parteien genauer prüfen, so ist ihm entgegenzuhalten, dass es nicht das Zivilgericht ist, das in das Eigentumsrecht eingreift, sondern der Rechtschutzantrag der Parteien. Deren Interesse steht sich gleichwertig gegenüber. Es ist nun einmal Wesen des Zivilprozesses, dass in das Eigentumsrecht der unterlegenen Partei eingegriffen wird. Der Eingriff erfolgt aber nicht durch die Zivilgerichte, sondern durch die obsiegende Partei, der der Rechtschutz des Staates zur Verfügung gestellt wird. Die Prüfung durch die Zivilgerichte ist damit bereits der prüfende Rechtsschutz dieses Eingriffes. Die „Vor“-Prüfung der Zivilgerichte würde dadurch zu einer Art „Vorverfahren“ werden.
Wenn sich der fl Gesetzgeber schon Gedanken um die Verfahrensdauer[161] macht, so wäre dies ein weiterer Anhaltspunkt auch für den StGH, denn: „Der Dauer gerichtlicher Verfahren kommt, wie einleitend bereits erwähnt, zentrale Bedeutung für die Antwort auf die Frage zu, inwieweit die Justiz ihre Aufgaben erfüllt. Zur Rechtsverwirklichung gehört, dass sie in angemessener Zeit geschieht. Rasche Verfahren sind massgebend für ein gutes Funktionieren der Justiz, welches wiederum wesentlich für das Vertrauen der Bevölkerung in die Justiz ist. Der Anspruch auf gerichtliche Entscheidung innerhalb angemessener Frist ist vor allem auch ein Gebot von Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).“[162]
Schlussendlich sind die „Billigkeit“ und „Schnelligkeit“ des Verfahrens Grundsätze, denen die ZPO in vielen Ausgestaltungen Rechnung trägt, um den Beschwerten den Zugang zum Recht zu ermöglichen, ohne dies von einer übermässigen Kostenbelastung für die Parteien und deren finanziellen Möglichkeiten abhängig machen zu wollen. Schliesslich werden durch Prozesse Güter und Finanzmittel dem Wirtschaftskreislauf entzogen.[163] Der Wegfall einer allfälligen „vierten“ Instanz, die nur allzu gerne angerufen wird, würde dem gut tun.
Letztlich möge man der Verstimmung gut ausgebildeter und sachlich-professionell handelnder Zivilrichter aller Instanzen nachsehen, dass es schlussendlich immer ein Unverständnis geben wird, wenn nach einem ordentlich durchgeführten Verfahren staatsgerichtliche Bedenken zu einem anderslautenden Urteil führen würden.
Schliesslich war und ist es Auftrag der Zivilrechtsprechung diese Aufgabe auch ohne uU väterlich gemeinte Leitung, selbst zu erledigen. Auch im Hinblick auf die nicht zu unterschätzende Auslastung des fl Landgerichtes könnte eine Zurückhaltung des StGH Positives bewirken.[164]
Letztendlich könnte sich auch der StGH einmal bei Auslegungsfragen irren: Ist er doch nicht mit Fachrichtern aus der jeweiligen Fachgerichtsbarkeit bestückt.[165] Doch auch der Gesetzgeber könnte für eine Klarstellung sorgen, insb, wenn dem StGH dadurch die Bedenken abzunehmen sind, dass er durch eine Nicht-Prüfung einer Rechtssache „Rechtsverweigerung“ begehen würde.[166]